Die zweiten 22 Halbjahresplatten 2022
Das Jahr, das seltsam lang wurde: bald zu Ende. Deshalb höchste Zeit für 22 Alben, die mich in der zweiten Jahreshälfte begleitet haben – und auch weiterhin begleiten werden.
Galsh: «FANCLUB»
Einfach mal los und spielen und in vielen Sprachen sprechen und singen – und mit «Ouaha» einen der begeisterndsten Songs raushauen: So geht das im «FANCLUB» von Galsh aus der Romandie. Bei allen Post-Punk-Vignetten ewig frisch, mit Erinnerungen an den Sommer sur le lac. Bis zum Mond.
Junge Eko: «What We Talk About When We Talk About Love» (BlauBlau)
Noch ist die bestaunenswerte «What We Talk About When We Talk About Love»-Albumserie nicht abgeschlossen, es fehlen noch zwei Lieferungen aus dem BlauBlau-Haus. Aber konsequentere Platten, zumal aus meiner näheren Umgebung, gab es in diesem Jahr nicht. Stellvertretend dafür: Catia Lanfranchis bewegendes Stück, das sie in Poschiavo aufgenommen hat. Part Spurensuche, part Trauerarbeit, während die Orgelpfeifen durchlüften und auf einmal ein Lied wie «Maybe Moon» erklingt.
Richard Dawson: «The Ruby Cord» (Weird World)
«Please read along», heissts als Aufforderung im Booklet zu diesem Album von Richard Dawson (mitsamt dem Ortszusatz «of Newcastle Upon Tyne»). So hangle ich mich nun zum wiederholten Mal durch die grosse Erzählung «The Hermit» durch, nehme Wendungen wie «two swallowed cups of pureed bilberries» mit, weil irgendwas essen müssen ja auch die getriebenen Einsiedler:innen, aber die Spuren führen dann weiter, zum Wild, zum Brauer, zu Young Charley Wheatstone, bis zum Schrei: «Murderer». Was dann noch folgt? Ein «faintly aglow»-Chor gegen die schwarze Wolkenwand, in dem ich mitsingen möchte. Wer damit durch ist: hört die weiteren Songs von einem der seltsamsten und grössten Erzähler der Gegenwart, die bis ins Museum aus der menschenleeren Zukunft führen. Weisst Du noch, als die Polizisten die Klimabewegung niedergeknüppelt hat? Distant memories...
Dry Cleaning: «Stumpwork» (4AD)
Von hier direkt zum Otter. Ah, die sind gar nicht da? Egal, weil Florence Shaw und ihre Band haben auf «Stumpwork» weitere Workarounds und One Liner gegen schlechte Launen parat. Should I propose friendship? Definitiv.
Carla dal Forno: «Come Around» (Kallista Records)
Halbwach die Drummachine anwerfen, und manchmal fröstelt sie, manchmal wärmt sie aber ungemein, zumal dann, wenn Carla dal Forno zum herumstreunen einlädt wie im Titelsong. Die Echos? Natürlich auf die Young Marble Giants, auf Broadcast auch – und so werden diese Popgeschichten eigen weitergeschrieben, die mir zumindest in den laufenden Jahren mit die liebsten sind.
Société Etrange: «Chance» (Bongo Joe Records)
Speaking of echoes: Dieses Album kann man allenfalls gleich im Anschluss an «Come Around» hören, als Verschärfung auch, weil hier Worte als Anhaltspunkte fehlen und keine tuckernde Groovebox die Takte angibt. Diese weiten Räume und weiten Reisen, die hier geöffnet und angepeilt werden, lockten mich immer wieder an. Bis hin zu neuen Aussichten.
Coby Sey: «Conduit» (AD93)
Er war ein Fixpunkt in diesem Jahr und an fast allen Festivals, die ich besuchen durfte, auch zugegen: als Tänzer, als Tirzah-Bühnenpartner, als Curl-Mitglied, als Zuhörer, als Fan, als Gesprächspartner. Und natürlich waren da seine beiden Konzerte mit seiner ganz eigenen Band, während denen Coby Sey so viele Aggregatszustände durchschritten hat. Es war heavy, es war rough, es war sweet und aber vor allem auch: sehr konsequent. «Conduit», nach verschiedenen EPs und Kollaborationen sein eigentliches Albumdebüt, zeugt von dieser Konsequenz. «Marking the past» sind die Anfangsworte, ehe man reinstürzt in den Strom dieser Sounds und Noises, dieser Stimme und Stimmen auch, die den Hörer:innen mit auf den Weg gibt: «Been outside, now we gotta focus // We need to support each other, I notice // All we got is us in the moment // To make it through tough times, it is our onus». Danach: nochmals zurück in den direkten Sturm, ehe «Conduit» still ausklingt.
Disco Doom: «Mt. Surreal» (Exploding in Sound)
Ah, immer noch so gut. Deshalb grad nichts neues erfinden, sondern den 390. Newsletter rezyklieren: Diese Sounds der Gitarren, aber auch jene der Drums, gibts nicht über Nacht, zumal dann, wenn man gängige Muster sprengen möchte, ohne ins Gimmickhafte abzudriften. So sind denn auch acht Jahre ins Land gezogen seit dem letzten Album von Disco Doom (dazwischen gabs noch die «No Map»-Exkursionen von J&L Defer), aber die Zeit hat sich gelohnt, weil «Mt. Surreal» so viel ausstrahlt. Call it: Offenheit, aber gleichzeitig auch eine ungemeine Konzentration und, jaja, Erhabenheit, etwa beim Lieblingslied «Pic Nic». Aber über was rede ich da?
Lucrecia Dalt: «¡Ay!» (RVNG Intl.)
Auch eine Auskopplung, dieses Mal aus dem November-Loop feat. splatz.space-Echos: Der Himmel scheint in diesen Tagen weit, mit seltsamen Wolken, den immer flüchtigen Chemtrails und einem Licht, das sengend und blitzend und dann auch sehr rasch schon wieder sehr dunkel scheint. Und was ist das für ein komisches Objekt, das da herumfliegt? Vielleicht ist es ein Hobby-Segelflieger, oder jener Flugkörper, mit dem sich Lucrecia Dalt durch Zeit und Raum bewegt und nun die Erde ansteuert. Nach dem prekären, sehr brüchigen und auch düsteren «No era sólida» hat die Kolumbianerin für ihr neues Album die Alienfigur Preta erfunden. Es ist eine übernatürliche Figur, die Dalt auf «¡Ay!» entwirft, eine, die der Legende nach keinerlei Zeitgefühl hat, und die sich auf der Erde nun ansieht, wie wir hier so leben. Und doch wirkt hier nichts gänzlich fremd, denn die Musik besinnt sich auf die Melodien und Stile aus Lucrecia Dalts Kindheit, auf Bolero, Merengue oder Salsa. Wer hier zuhört, bohrt sich in eine Vergangenheit zurück, oder vielleicht auch nach vorne oder zur Seite, denn vergangen wirkt hier nichts. Was Preta bei uns eigentlich will? Nun, vielleicht einfach zum Slow-Dance einladen, ehe sie wieder davonfliegt, und die Umwelt verändert zurücklässt. Was für eine Erscheinung. ¡Ay!
Charles Stepney: «Step on Step» (International Anthem)
Was können Demos, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren? Sie können bestenfalls eine Wärme und Herzlichkeit, eine Unbefangenheit und Direktheit ausstrahlen, wie es fertig produzierte Musik nur selten kann. Zu hören ist dies in diesen Fundstücken, die Charles Stepney in seinem Basement aufgenommen hat, und die hier mit Erinnerungen von seinen Töchtern verwoben sind. It's a family affair, die zu Herzen geht. Mehr zu diesem Album: hier.
The Soft Pink Truth: «Is It Going to Get Any Deeper Than This?» (Thrill Jockey)
«Shall We Go On Sinning So That Grace May Increase?» fragte Drew Daniel auf seinem letzten Soft-Pink-Truth-Album, das den immer aufgeladeneren Hass-Stimmungen der Aussenwelt mit einer grossen Community-Kammermusik geantwortet hat. Dieser Community-Sinn ist nicht weniger ausgeprägt auf dieser Ode an die queeren Clubkulturen, wiederum eingespielt von einer Vielzahl an Musiker:innen, bis zu Tränen auf dem Dancefloor. Deeper than this? Gehts nicht mehr.
Yara Asmar: «Home Recordings 2018 – 2021» (Hive Mind)
Tapes mögen bei einigen Musikindustrie-Menschen als lustiges und letztes Gimmick zur Geldvermehrung gelten, aber dass es um viel mehr geht, beweisen so viele fantastische Labels wie etwa Hive Mind. Also einlegen, Play drücken, und in aller Ruhe hören, welche Sounds Yara Asmar in Beirut aufgefunden hat. Es sind Glockenspiele, Strassenlärmfetzen, spooky Heimorgeln, raumöffnende Verzerrungen, die auch die Zimmer füllen. Nur rasch durchskippen? Nicht nur wegen dem Format unmöglich.
Loraine James: «Building Something Beautiful For Me» (Phantom Limb)
Loraine James überschreibt auf diesem Album die Kompositionen von Julius Eastman. Kenntlich ist kaum was, aber die Stücktitel in den Klammern geben Aufschluss über die Vorlagen. Und das fast schon euphorische «Stay On It» wird bei ihr in den zweifelnden Track «Maybe If I» überführt. Die tröstende Schönheit, die Loraine James für sich auf diesem Album gefunden hat: sie hallt sehr lange nach.
Mabe Fratti: «Se Ve Desde Aquí» (Unheard of Hope)
Mit diesem Album möchte ich noch viel mehr Zeit verbringen, so, wie mit allen Musiken, die hier aufgeführt sind. Denn die Songs der Cellistin aus Guatemala bergen so viele Schichten, so viele Abgründe, so viele Schönheiten und so viele Höhen, die immer wieder zum Hören herausfordern. Wer sichs erleichtern möchte: einfach «Algo grandioso» ansteuern, und von dort in alle Richtungen.
Sam Prekop / John McEntire: «Sons Of» (Thrill Jockey)
Die beiden Sea-and-Cake-Gefährten Sam Prekop und John McEntire sprechen durch ihre modularen Synthies – sehr locker, sehr familiär, sehr herzlich. Zunächst wirkt das auch beiläufig, bis die Sinne weit geschärft sind, und die vier langen Stücke schon wieder zu Ende sind. Schlicht eine Freude.
Moin: «Paste» (AD93)
Schärfer wirds hier nicht mehr, denn Moin, die Post-Raime-Band (die ja auch «hoi» heissen könnte), haben alles genau gechopped: die Samples, die Gitarrensounds, die Drums von Valentina Magaletti. Post-Irgendwas? It's das Jetzt, und der Raum, dank dem man in Bewegung bleibt.
13 Year Cicada: «haha gravity» (BlauBlau Records)
Die Schwerkraft ausschalten geht immer noch. Etwa mit «haha gravity» von 13 Year Cicada. So gehts los, mit Drums und Gitarren- und Synth-Patterns und der Stimme von Zooey Aggro, die alle in Bewegung sind: sie kreisen um das Songzentrum, das immer erahnbar ist, nie aber ganz ausgedeutet wird. Also keine Refrains, aber einige süsse Popmelodien, viele Abzweigungen in laute und freie Noise-Gebiete. Dank dem Taumel und Schwindel, den diese Tracks auslösen, ist man weg von hier oder bereit für den Umsturz. Denn die Schwerkraft? Haha. Use your illusion!
Omni Selassi: «Dance Or Dye» (A Tree In A Field)
Omni Selassis Albumdebüt – nach fantastischen Konzerten und unwahrscheinlichen Paralleluniversen-Welthits wie «Cashew Carry». Auch hier gleich rein, in die Bewegung, die Raserei dieser Band – die Spass hat am Bauen und Zerstören der Songs, am Weiterspinnen von Pop- und Rocktraditionen. Und weiterhin: von Anstrengung keine Spur, und deshalb kann man dann auch ruhig Wegdriften mit dem letzten Song «A Child in it's Water». Was da noch alles kommen mag?
Jockstrap: «I Love You Jennifer B» (Rough Trade)
Die «City Hell» und der verrückte «Beavercore» sind bereits verlassen, aber auf «I Love You Jennifer B» haben Jockstrap noch immer so viele Verrücktheiten und Twists in ihre Popsongs eingebaut, dass es eine grosse Freude ist. Und «Greatest Hits» ist ohne Zweifel einer der grossen Hits dieses Jahres. I believe in dreams, do you?
Michael J. Blood: «As Is»
Michael J. Blood und sein Komplize Tom Boogizm bzw. alles aus dem Shotta Tapes-Umfeld sind meine gegenwärtige Obsession. Bis sie es vielleicht dann doch mal hierhin schaffen, bleibt beispielsweise dieses Album, das derzeit auch ohne Discogs-Räuberpreise in blutroter Version erhältlich ist. In diesem Club? Könnte ich für immer bleiben.
Various Artists: «Ghost Riders» (Efficient Space)
Der ewige Sommer 2022 ist nur noch eine ferne Erinnerung, doch bevor wir nun wieder ganz allein in die Wohnungen für den hoffentlich nicht gar so langen Winter zurücktrotten, sollte man sich erst noch «Ghost Riders» besorgen. Denn der Sampler, kompiliert von Ivan Liechti, vereint 17 verlorene und vergessene Songs, die zwischen 1965 und 1974 in US-Käffern wie Clinton, Iowa oder Moscow, Idaho aufgenommen wurden und nur selten in die Grossstädte ziehen. Was auch passt, denn die Songs auf «Ghost Riders» beschreiben ein Leben im Abseits, erzählen vom Verlassen- und Abgekapseltsein und von unerfüllten Wünschen auch. Bei aller Verlorenheit strahlt diese Songsammlung eine Wärme und Sehnsucht aus, die kalte Hütten und erkaltete Herzen wärmt, etwa dann, wenn Dennis Harte die Sonne in «Summer's Over» bittersüss verabschiedet. Ein Instant-Hausklassiker für immer.
Augenwasser: «The Big Swim» (Bongo Joe)
Und dann losschwimmen mit Augenwasser, diesem Vermessungskünstler der Nacht, der auf «The Big Swim» bei allen Suchbewegungen so viel Zuflucht und Augenstrahlen schenkt. Keep it together dank diesen Songs? Ja, unbedingt.