Die ersten 22 Halbjahresalben 2022

Nolasagne Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Rasch durchschauen, was ich im bisherigen Halbjahr fast am liebsten gehört habe. Was fehlt: die Blockbuster, die immer auch dazugehören, doch für mich schlicht grad nicht so wichtig sind. Also los.

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Gustavo Yashimura: «Living Legend of the Ayacucho Guitar» (Hive Mind Records)

Gleich zu Beginn: eine Reise in diese abgelegene Andenregion Perus, in der Gustavo Yashimura diese sture und doch hybride Gitarrenmusik gefunden und gelernt hat, bis zur Meisterschaft. Eine Kassette, die ich immer wieder einlege, und mich immer wieder trifft.

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Carmel Smickersgill: «We Get What We Get & We Don’t Get Upset» (PRAH)

Als «We Get What We Get & We Don't Get Upset» erschienen ist, schrieb ich hier, dass dies genau so eine Musik ist, wegen der ich diese ongoing Wochenpost so gerne schreibe. Zwirbelt seither unentwegt, denn «silly music that comes from serious places» bleibt auch das, was nicht nur derzeit von unschätzbarem Wert ist.

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Tirzah: «Highgrade» (Domino)

So viel mehr als bloss eine Remix-Angelegenheit ist diese Rework-Version von Tirzahs «Colourgrade». Wie das Speakers Corner Quartet «Hive Mind» kollektiv spielt, wie «Sink In» durch die sinnlichen Maschinen von Actress neu einfährt, und vor allem auch, wie Still House Plant «Send Me» im- und explodieren lassen, sind nur drei Beispiele, die zeigen, wie viel Offenheit die konzentrierten Songs von Tirzah zulassen.

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Wu-Lu: «Loggerhead» (Warp)

Wu-Lu ist auch gegenwärtig auf «Highgrade». Und die Freund- und Nachbarschaft zur Curl-Gang scheint auf seinem Debüt auch durch, weil «Loggerhead» ist harsch, aber auch sehr verletztlich und verletzt. Ein Emo-Album, das, jaja, aufwühlt und auch rausschreit.

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They Hate Change: «Finally, New» (Jagjaguwar)

Und dann: losrasen, weiterrasen, immerweiterrasen. They Hate Change aus Florida beginnen mit einem «Stuntro», stürzen durch Wurmlöcher in die Jungle-Vergangenheit, tanzen weiter, bis der Floor erreicht ist. Unstoppbar.

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Cate Le Bon: «Pompeji» (Mexican Summer)

Cry me old trouble? Gerne, doch nur dann, wenn ihn Cate Le Bon umsingt. «Pompeji» wirkt zunächst direkter, zugänglicher als frühere Platten, aber oh, was für eine Illusion, denn die Teufel stecken im Saxofon, in Stella Mozgawas Verschleppungen, sowieso in dieser Atmosphäre, die so lockend ist, und bei immer neuen Hördurchgängen immer wie mysteriöser wird. Wer nur ganz casual «Pompeji» besuchen will: einfach «Moderation» oder «Harbour» anspulen.

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Jack J: «Opening the Door» (Mood Hut)

Das war die Sommerplatte im Frühling, und Jack Js Songs wirken auch jetzt, weil sie bei aller Schwüle eine pazifische Brise durch die Mood-Hütten wehen lässt. Zum Tänzeln, zum Tränen verdrücken, oder zur Vertonung der endlosen Sommernächte draussen vor der offenen Tür. (Sowieso: die Mood-Hut-Musik und all die Pender Street Steppers-NTS-Sendungen sind ein Vibe, immer wieder, in diesem halben Jahr besonders.)

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Kurt Vile: «(watch my moves)» (Verve)

Auch ein Lebensziel: sich so lässig-schlurfig und strahlend zu bewegen wie Kurt Vile auf diesem ersten Album für Verve. Für die Stunden, in denen sich alles zerdehnt und auflöst. Hey like a child, für immer.

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Chien Mon Ami: «What We Talk… »(BlauBlau)

Mit diesem Album begann die monatliche Alben-Serie «What We Talk About When We Talk About Love» des Labels BlauBlau. Und deshalb stehen Chien Mon Ami auch hier, zumal die Tracks von Naomi Mabanda und Benjamin Tenko ideale Ausgangspunkte sind, um weiter auszuscheren. Wie bereits geschrieben: so eine Sammlung an unformatierter Musik findet man selten. Und das zweite Halbjahr und sechs weitere Folgen stehen noch an.

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Lorraine92: «recreational»

Keine allzu grosse Lust auf das Grosse – deshalb hörte ich viel lieber diese Lieder von Lorraine92 aus Genf immer wieder. Zum Rein- und rausstolpern durch die Good-Sad-Happy-Bad-Tage. Und die Schwere wirkt so superleicht.

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Animal Collective: «Time Skiffs» (Domino)

Revivalzeit überall, und aber auch: ein Wiedersehen mit jener Band, mit der ich älter geworden bin und dank diesem Album auch gerne älter werden möchte. Weil die Freude, die Neugierde und das Rausgehen sind bestimmend auf «Time Skiffs». Auch gut geeignet zum weiterrudern, vor allem mit den Singles «Prester John» und «Strum on Everything». Fast schon Euphorie, yes.

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Adam Badí Donoval: «Sometimes Life Is Hard an So We Should Help Each Other» (Trilogy Tapes)

Heute bin ich früher aufgewacht als in der Vergangenheit, und das wird auch im nächsten halben Jahr so sein. Aber es lohnt sich, auch weil Adam Badí Donovals Ambient-und-Field-und-Found-und-Chor-und-Voice-Tracks gerade zu diesen Uhrzeiten besonders tief wirken. Zum sich Vergraben, zum Rausschauen, zum Vereinzeln – oder zum Umarmen. Dieses Tape wird mich immer wieder heimsuchen und weiter bewegen.

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Baumschule: «( )» (three:four)

Im vergangenen Jahr dürstete ich nach Geschwindigkeit, nach hoher Lautstärke auch. All das passt nun, doch dazwischen: besser mal hinsetzen, Musik hören, beispielsweise dieses sich langsam entfaltende Stück von Manuel Troller, Raphael Loher und Julian Sartorius. Gitarren-Piano-Schlagzeug mit allen Zwischentönen und vielen Bewegungen, die nicht nur in die Gärten führen. Choose your own adventure, auch und gerade hier. Denn die ( ) sind weit offen.

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Bogdan Raczynski: «ADDLE» (Planet Mu)

Rasch reinskippen? Geht hier nicht. Denn «ADDLE» von Bogdan Raczynski, mit dessen früheren Alben ich leider immer noch gänzlich unvertraut bin, zog an mit den traurigen und so sinnlichen Maschinen, mit diesen raummorphenden Sounds, die ich gerne auf einem Club-Soundsystem hören möchte, mit «Drukqs»-Erinnerungen auch, aber ohne das Supernervöse. Für die Nächte, für die Zugfahrten, und wohl auch für den Winter. So viele Möglichkeiten, es ist hier ein Riddler am Werk.

14 19 32 969 892933 Jenny Hval Classic Objects 500X500 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Jenny Hval: «Classic Objects» (4AD)

Yes, es ist Liebe, auch dann, wenn man den Vertrag mit dem Patriarchat eingeht: Jenny Hval beschreibt auf «Classic Objects» ihr Jahr der Liebe, ihre Hochzeit, und ihre Reisen, die bis zum Jupiter führen, auf ihrem schlicht schönsten und vor allem auch lockersten Album bislang.

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Aldous Harding: «Warm Chris» (4AD)

Fieber jetzt, mit Aldous Harding, die auf «Warm Chris» mit «Fever» nicht nur den fantastischsten Song des bisherigen Jahres aufgenommen hat, sondern mit ihren so vielen Sängerinnen-Stimmen auch das Lied weiter herausfordert, bis zum Schwingen der ledernen Peitsche. Wann sie vom Berg zu uns heruntersteigt? Passion, Babe.

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Beach House: «Once Twice Melody» (Bella Union)

Nach «Teen Dream» brauchte es für mich eigentlich kein Album von Beach House mehr – sie blieben jedenfalls von mir weitgehend unberührt und liessen mich auch ungerührt. «Once Twice Melody» traf bei der stückweisen Kapitel-Veröffentlichung aber immer wieder meine sentimentalen Soft Spots, trotz dem Wissen, dass Victoria LeGrand und Alex Scully diese recht direkt ansteuern. Aber natürlich: am Blinzeln ist nicht der instagramtaugliche Sonnenuntergang Schuld. Und was hast du da in den Augen?

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Broadcast: «Maida Vale Sessions» (Warp)

Where Youth and Laughter Go? Immer wieder und immer mehr in die Platten von Broadcast, die mich in den letzten Jahren fast konstant begleiten. Drei Reissues sind im Frühling erschienen, darunter diese verschiedenen BBC-Sessions mit neuen Versionen von geliebten Liedern wie «Come on Let's Go» oder «Long Was the Year», das in dieser Aufnahme eine ungeahnte Drastik entwickelt. Zum Schluss: Nicos «Sixty Forty», schlicht essentiell.

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Noi Noi: «Kalaba» (Plouk)

Das erste Tape des Jahres bleibt auch eines der frischesten: NOI NOI aka Gess Zinni und Beni Fritz haben aus dem Hüsli diese Scrappy-Pop-Songs jenseits allen Routinen aufgenommen. Hi-He-Ha? Nochmals rein in den allerersten splatz.space-Text und alle anderen Taimashoe- bzw. Plouk-Veröffentlichungen. Hilft zuverlässig gegen allfällige Einrostungen.

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Stahlberger: «Lüt uf Fotene»

Stahlberger is a band, und das war noch nie so gut zu hören wie auf «Lüt uf Fotene», ihrem wuchernden und wandernden Album, das Katastrophen und Unheimlichkeiten und Sehnsüchte unerhört einfängt. Für Ausbrecherkönig:innen sehr empfohlen.

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Axel Boman: «Luz / Quest for Fire» (Studio Barnhus)

So viele Kuriositäten, Verzerrungen, Herzlichkeiten und immer auch entschiedene Moves hin in den Club stecken in diesen Tracks von Axel Boman, bis alles verstrahlt und überstrahlt ist. Weltflucht? Ja, schon, muss aber auch sein, zumal dann, wenn «Sottopassagio» losblastet.

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Rat Heart: «A Blues» (Shotta Tapes)

Es ist leicht stressig, den Veröffentlichungen von Tom Boogizm bzw. seinem Label Shotta Tapes zu folgen. Weil sie sind oft schnell ausverkauft und erscheinen meist unangekündigt. Woher seine Musik aber stammt? Natürlich aus Wigan, aber vor allem aus einer sehr eigenen Zwischenwelt zwischen Clubgeschichten und Ambient-Drones und Dubtraditionen. «A Blues» jedoch dreht noch andere Kreise, geht hin zu supertraurigen Liedern und tröstenden Soundscapes. Natürlich ein Album des Jahres, aber eigentlich: so viel mehr. Für diesen Blues? Baue ich einen Schrein, mindestens.

Diese Halbjahrescompilation war Teil des Popletters «Listen Up!», der zuverlässig am Sonntag in Ihrer Mailbox landet. Hier gehts zum Abo.

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