Ernest Hood: «Neighborhoods»
Das Album «Neighborhoods» des Ambient-Pioniers Ernest Hood ermuntert dazu, die Kopfhörer wieder einmal wegzulegen.
Alles so schön sauber und klinisch in unserem Alltag. Hört, wie der E-Scooter beinahe unmerklich vorbeigleitet, hört, wie der Roboter-Staubsauger seine Arbeit so still wie nur möglich verrichtet, hört, wie die Drohne im Himmel surrt oder das E-Bike einen fast lautlos überholt. Das Klingeln der Kassen und das Läuten der Schulhausglocke? Sind längst ausgeklügelten, durchdesignten Pieptönen gewichen. Bloss der Baulärm bleibt wie eh und je: sehr laut und unberechenbar.
Die
Digitalisierung hat die Geräuschkulisse unseres Alltags verändert. Das
Rattern der Kino-Filmprojektoren wie das Schnaufen der Lokomotive
gehören einer vordigitalen Zeit an, die nur noch nostalgisch erfahrbar
ist.
Die BBC hat beispielsweise ein immenses Archiv mit 16'000 Sounds online zugänglich gemacht (zum Archiv); man findet dort Kameraklickgeräusche, verschiedenste Dampfmotoren, Glocken, die Wrestlingkämpfe einläuten und Geräusche aus den Urwäldern oder der englischen Provinz. Selbst das Schweizer Dü-Da-Do-Postautohorn, das Erinnerungen an Landausflüge in der Kindheit weckt, tutet in dieser faszinierenden Sammlung auf.
Wer sich durch dieses Archiv durchklickt, reist durch eine Welt, die es so nicht mehr gibt. Und es weckt auch Erinnerungen an eine Zeit, die vergangen ist, die man vielleicht noch miterlebt oder aus den Erzählungen der Eltern zumindest noch mitbekommen hat.
Wie temporär und doch auf ewig abrufbar Geräuschkulissen der Vergangenheit sind, macht auch ein Album deutlich, das kürzlich wieder ausgegraben wurde. «Neighborhoods» heisst es, und es fängt wie eine Zeitkapsel jene Geräusche ein, die einst den Alltag in Kleinstädten oder das Dorfleben bestimmten: Das Läuten des Lädeliglöckleins, das Hupen der Eisenbahn, selbst die ausgelassene Stimmung nach Schulschluss wird greifbar, wenn die Schulkinder sich im Kiosk eine Glace kaufen
Der Amerikaner Ernest Hood hat diese Sounds seiner Nachbarschaft Mitte der 70er-Jahre gesammelt, aufgenommen mit klobigen Kassettenaufnahmegeräten und einer Vorgehensweise, die ihn in seiner Heimatstadt Portland zuweilen verdächtig machte: Damit er die Sounds von Kindern und Familien, die draussen spielten, in guter Tonqualität und unbemerkt einfangen konnte, verdunkelte Hood die Fenster seines parkierten Autos und isolierte es mit Tüchern. Dies bescherte ihm eine Erwähnung im Polizeibulletin, das die Anwohner vor einem mysteriösen Mann in einem abgedunkelten Auto warnte.
Für «Neighborhoods» hat Hood die Umgebungsgeräusche in acht Keyboardtracks eingebaut, man hört auch die Saiten der Zither, die er sehr langsam anschlägt, etwa im eröffnenden «Saturday Morning Doze», das nach einem sehr schläfrigen Samstagmorgen klingt – an dem man nichts machen muss, ausser weiterdösen. Das Leben kann ja vor dem Schlafzimmerfenster weiter auf uns warten. Man hört auch Jahrmärkte, das Knallen von Feuerwerkskörpern, das Zirpen von Grillen, ehe in «Night Games» das kindliche Spiel draussen während der Nacht verewigt wird.
Schon damals ging es Ernest Hood weniger um die unmittelbare Gegenwart, um den Klang des Jetzt; vielmehr spürte er, wie diese Sounds aus seiner Nachbarschaft und seinem Alltag allmählich verschwinden. Er wollte sich mit dieser Klangsammlung auch an seine Kindheit zurückerinnern, sie im Gedächtnis bewahren – mit Sounds, die nicht nur für seine Nachbarschaft stehen, sondern für das Aufwachsen in vorstädtischen Quartieren schlechthin. «Memories of Times Past» heisst denn auch der Untertitel seines Albums, mit dem er in Insiderkreisen zu einem Pionier der Ambientmusik geworden ist.
Ernest Hoods Musik war auch sein Tribut an eine Aussenwelt, zu der er den Kontakt allmählich verloren hat. Denn der 1923 geborene Hood war eigentlich ein gefragter Jazzgitarrist, bis ihn eine Polioerkrankung so stark beeinträchtigte, dass er nach einem Jahr in der Eisernen Lunge – einem heute monströs erscheinenden Gerät, das ihn maschinell beatmete – zeitlebens auf den Rollstuhl oder Beinstützen angewiesen war.
Das Gitarrespielen war ihm fortan unmöglich, und so wendete er sich neuen Aufnahmetechniken zu, gründete ein Community-Radio, suchte sich Instrumente aus, die er zu Hause in seiner Wohnung spielen konnte. Als sich sein Gesundheitszustand in den Neunzigern wegen eines Post-Polio-Syndroms weiter verschlechterte, setzte er sich für ein neues Sterbehilfegesetz in seinem Heimatstaat Oregon ein. 1995 war Ernest Hood die erste Person, die selbstbestimmt sterben durfte.
«Neighborhoods» erschien 1975, Hood veröffentlichte die LP auf seinem eigenen Label in Kleinstauflage und verschickte sie an Bekannte und Freunde. Er schrieb auch einen Begleittext, in dem er die nostalgische Qualität und den universalen Charakter seiner Musik betonte. Auch wenn Hood natürlich wusste, dass seine eingefangenen Geräuschkulissen sehr amerikanisch klingen.
Es ging ihm auch eher um den «mood», um die Stimmungen, die heute noch einnehmen – egal, wo und wann man aufgewachsen ist. Sie erzählen von kindlicher Unschuld, von unbeschwerten Sommertagen, von stillen Nächten. Und sie schärfen – bei aller bittersüssen Super-8-Retroästhetik, die die Tracks ausstrahlen – den Sinn für die Alltagstöne der Gegenwart. Klingen denn die Dinge wirklich nur noch klinisch, nur sauber, nur designt, nur normiert? Geht denn alles unter im viel zitierten Rauschen des Jetzt?
Wer die Noise-Cancelling-Kopfhörer, mit denen man sich prima von der Aussenwelt abkapseln kann, einmal weglegt, merkt schnell wieder: Der Alltag lebt. Natürlich sind da alle wohldesignten Sounds, die von neuen Mobilitäten und Kapselkaffeemaschinen erzählen.
Aber wer sich umhört, entdeckt ein altes Lied in allen Dingen: Im verfrühten Singen der Vögel, das nicht unbedingt auf die Winterjahreszeit hindeutet, im Toben der Kinder auf den Spielplätzen, das herüberweht, oder in den Tramglocken, die noch immer recht schrill läuten können, wenn ein Fussgänger vor die Fahrzeuge tappt. All diese Klänge: Man kann sie einfangen, bevor sie verschwunden sind.
Ernest Hood: «Neighborhoods» (Freedom to Spend)
Dieser Artikel ist im Januar 2020 unter dem Titel «Wie klingt eigentlich der Alltag?» im «Tages-Anzeiger» erschienen.