Tocotronic: «Die Unendlichkeit»

Bildschirmfoto-2018-01-31-um-14.06.35 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Tocotronic erzählen auf ihrem Album «Die Unendlichkeit» aus ihrer Biografie. Und bleiben doch die Trickser von früher.

Der pubertäre Bub sperrt sich weg von den Erwachsenen, zieht sich in sein Zimmer zurück, dorthin, wo er sich sicher fühlt. Was er dort macht, kann er uns ja verraten: «Ich schnalle dich um, nehme dich in die Hände, und schicke den Sound zwischen die Wände», berichtet er, ehe er sich in Posen wirft, Pickel ausdrückt und den «Teenage Riot im Reihenhaus» anzettelt. Dank seinem Instrument, das für Rebellentum, für Befreiung und Ekstase, für Rock ’n’ Roll steht. Dieses Instrument ist, wie der wieder zum Buben gewordene Sänger schmachtet, die «Electric Guitar».

Der Bub, der seine Gefühlsaufwallungen im Elternhaus schildert, ist Dirk von Lowtzow, 46-jähriger Sänger und Gitarrist der Band Tocotronic. Es könnten aber auch ich, du, Sie, kurz: schlicht jeder sein, der in den Achtzigern oder Neunzigern in irgendeinem Provinzkaff aufgewachsen ist, den Aufstand probte und schliesslich zum Ausbruch ansetzte. Und wenn man dann zurückschaut auf dieses Lebensgefühl, heult die elektrische Gitarre zumindest bei dieser im Kern unnostalgischen Band auch nicht mehr laut und verzerrt auf. Und muss schon gar nicht mehr rocken. Sie kann einfach sanft kommentierend ein paar schön zerdehnte Töne von sich geben, die zu Tränen rühren können.

Diese klassische Coming-of-Age-Geschichte erzählen Tocotronic auf «Die Unendlichkeit». Es sei ein autobiografisches Album, sagt die Band. Vorbei scheinen also vorerst die Zeiten, in denen sie in ihren Songs Kulturtheorien und philosophische Thesen verhandelten und sich schon auch mal wunderbar verstiegen.

Was nicht bedeutet, dass Tocotronic auf ihrem zwölften Album nun einfach nur wahrhaftig erzählen. Wie als Warnung, sich ja nicht einfach distanzlos hinzugeben, hallen die Worte nach, die von Lowtzow im Titelsong – einem driftenden Weltraumblues – der Hörerschaft mit auf den Weg gibt: «Ich habe dich vielleicht belogen, und zwar immer dann, wenn wir uns am nächsten waren.»

Von dieser kosmischen Warte aus zoomt sich die Band rein ins Album. Man hört im Klangbild Beatlesvignetten, als über das furchtsame Kind gesungen wird. Es ist zu spüren, wie der jugendliche Rebell im punkrockgefärbten «Hey du» den engen Kleinstadtgeist provoziert und fragt: «Bin ich etwas, das du nicht kennst, dass du mich Schwuchtel nennst?» Wie sich der Protagonist erstmals verliebt und die Band den sorgenlosen Übermut, die das Frischverliebtsein so an sich hat, wirbelnd vertont. Und wie sich Dirk von Lowtzow, endlich entkommen aus der heimatlichen «Schwarzwaldhölle» Freiburg, in Hamburg wiederfindet, wo die Band 1993 gegründet wird und mit sloganhaften Songs wie «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein» neue Erzähltechniken in die deutschsprachige Popmusik einspeist.

Derart explizit könnte es weitergehen, doch Tocotronic entziehen sich in der Folge einem biografisch eindeutigen Zeithintergrund. Die Erzählungen werden privater, und von Lowtzow, der auf dem letzten Album nur metaphorisch von der Öffnung sprach und ein spielerisches «Date mit Dirk» inszenierte, öffnet sich weiter: Er erzählt von einem Todesfall, der ihn erschüttert hat, von privaten Krisen, von Beziehungen, die ihn gerettet haben. Die Musik zitiert Minimal Music, wird elegisch, verliert fast jegliche Rockeinflüsse.

So, wie sich Tocotronic auch als Band nach und nach verabschiedeten von ihrer Trainerjackenuniform, vom hingeworfenen Sound der amerikanischen Slackerhelden wie Pavement, und gegen immer neue Einflüsse eintauschten, die immer öfters in der Literatur zu finden waren. Und so zeigten, wie es möglich ist, als Rockband älter zu werden, ohne an Relevanz zu verlieren.

Natürlich gewinnt am Ende, das in der Gegenwart liegt, wieder der Trickser die Oberhand. Von Lowtzow singt von gefälschten Biografien und davon, dass er alles, was er nun geschrieben hat, ausradiert. Nur einen Wunsch hat er nach seinem Wiederbesuch in der Vergangenheit noch. Er lautet ganz schlicht: «Bitte verlasst mich nicht.»

image 3687 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Tocotronic: «Die Unendlichkeit» (Vertigo/Universal). Konzert: 9.4., X-Tra, Zürich

Foto: Michael Petersohn

Dieser Artikel erschien im «Tages-Anzeiger» vom 24. Januar 2018.

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