Die zweiten 22 Halbjahresalben 2021
Nun auch ausserhalb des Popletters: die Musik aus dem zweiten halben Jahr 2021.
Das zweite halbe Jahr klang doch recht anders als das erste, mit neuen Musiken und familiären Gefährt:innen, die mich in dieser Saison einmal mehr sehr gerne heimsuchten. Die Ordnung ist hierarchielos, aber nicht zufällig. Viel Freude, hoffentlich.
Tara Clerkin Trio: «In Spring» (World of Echo)
Einschliessen? Mit der Musik dieser jungen Band aus Bristol ginge das immerhin recht leicht, dank lieben Songs wie «Done Before», die die Räume öffnen, dank einem leicht verspulten und neugierigen Wesen, das sich durch die ganze EP zieht, dank Good-Sad-Happy-Bad-Melodien auch, die einen durch die kalte Saison bringen. Und dann: wird hoffentlich auch schon wieder Frühling sein.
Sam Gendel: «Fresh Bread» (Leaving Records)
Miniaturen aus den 2020er-Lockdowns versammelt der forschende Saxofonist und DJ und Produzent Sam Gendel auf diesem ausufernden Skizzen-Album, in das man sich immer wieder reinklicken oder reinspulen oder reinskippen oder reinshuffeln kann, je nach Medium halt. «Fresh Bread» enthält so viele Ideen, so viele schöne Momente auch, und: so viele gute Vibes auch. «Sometimes I Feel So Good»? Bei «Fresh Bread» immer. Noch mehr von Sam Gendel? Eben erschienen ist «AE-30».
Mira Calix: «a̶b̶s̶e̶n̶t̶ origin» (Warp)
Mira Calix hat auf «a̶b̶s̶e̶n̶t̶ origin» ihr eigenes Archiv aus Scores und unterwegs aufgenommenen Sounds zerschnitten und neu zusammengesetzt zu einer atemraubenden und auch zu Herzen gehenden Collagenmusik, mit Grüssen zu den Collagekünstler:innen aus der Vergangenheit und Gegenwart. Und aber auch: «a̶b̶s̶e̶n̶t̶ origin» ist ein Album, zu dem auch getanzt werden kann. Jede und jeder für sich, «to their own personal Boomboom». Yes.
Taimashoe: «Alles Guet» (La Suisse Primitive)
Alles ist offen, doch nichts zerfasert: Gessica Zinni hat ihre Songs oder besser: Versionen ihrer Songs auf dieses Album gepresst. «The rhythm is so impatient, how come the whole thing is so light and easy?», heisst es zum Song «Spizzeli», und das passt auch zu «Alles Guet», denn viel selbstverständlicher kommen Pop und Experiment selten zusammen. Schlicht: So guet.
Tirzah: «Colourgrade» (Domino)
It's a family affair, bei Tirzah mehr als bei fast allen anderen. Doch so privat auch «Colourgrade» wirkt: Sie funkt mit ihren Kompliz:innen um Coby Sey und Mica Levi zu mir und Dir, wo immer wir auch gerade sind. Ein Wunder, immer wieder.
John Glacier: «SHILOH: Lost for Words» (PLZ Make It Ruins)
Wann war die letzte Nacht im Club mit den allerletzten Drinks? Liegt schon ein Stück weit zurück. Aber das Gefühl danach? Geht nicht vergessen. John Glacier jedenfalls fährt nun nicht mehr auf der Soundcloud-Datenautobahn, sondern auf allen anderen Kanälen mit ihren von Vegyn produzierten Rap-Songs, die das After-Hour-Gefühl mit all den Hoffnungen und Enttäuschungen genau einfangen. «I wanna party all night 'til the sun rise»? Hoffentlich bald wieder.
L'Rain: «Fatigue» (Mexican Summer)
Ein Album gegen die Erschöpfung, auch wenn es schwer ist: Taja Cheek hat mit «Fatigue» ein offenes und zwingendes und suchendes Album aufgenommen, mit all den Vignetten der Gegenwart, die aber auch in eine bessere Zukunft führen können. Und «Blame Me»? Einer der Songs des Jahres, zweifellos.
Space Afrika: «Honest Labour» (Dais Records)
Und dann doch wieder raus, in die Strassenschluchten, in die Nacht und auf durch den Nebel der Gegenwarten. Das Duo aus Manchester, das im vergangenen Jahr auf dem Mixtape «hybtwibt?» die Black-Lives-Matter-Proteste und das Rollen der Denkmäler so nah, wie es für im weitesten Sinne Ambient-Musik möglich ist, eingefangen hat, geht zwar in die privaten Räume. Aber wo diese aufhören und wo beginnen, das ist ja auch nicht mehr so klar. Und was bedeutet eigentlich die Phrase «in love with someone»? Was wir hören: Field-Recordings, Ambient-Spulen, konkrete Beats und Rapstrophen und Störgeräusche natürlich auch. Ein Album zum Durchwandern, zum kurz Platz nehmen at the table, bevor es wieder raus und weiter geht, bis zu den tränenden Streichern am Schluss.
Low: «HEY WHAT» (Sub Pop)
Für einmal können all die Kapitale im Albumtitel oben stehen gelassen
werden, weil an jenem Freitag mitten im Monat September fanden sich
sehr viele beinahe ungläubig vor ihren Musikanlagen wieder, und hörten
Noises und Sounds, die sie so noch nie gehört haben. Es sind
abstossende, komprimierte Sounds, mit denen das Low-Ehepaar Alan
Sparhawk und Mimi Parker schon seit längerem experimentiert, zuletzt
auf dem definitiven Anti-Trump-Album «Double Negative», das bei aller
Widerspenstigkeit und Abstraktheit immer auch tröstend sagte: ein
besseres Zusammenleben wäre möglich.
«HEY WHAT» ist nun noch radikaler, konzentrierter auch, fällt ins Bodenlose, und steigt dann kurz weit hinauf, etwa in der Single «Days Like These». Das nimmt natürlich schon fast ersatzreligiöse Dimensionen an, zumal dann, wenn alles so still wird wie einst in jenen fernen Zeiten vor beinahe dreissig Jahren, als Low mit ihren Lullabies zum ersten Mal zu hören waren. Die Stille hier, die prekäre Schönheit in den zweistimmigen Gesängen: sie kündigen bereits den nächsten Sturm, die nächste Wucht an. Und wir sitzen vor unseren Musikanlagen oder wandern mit dem Kopfhörer durch die Gegend, wischen vielleicht eine Träne aus dem Gesicht, blicken uns um, ob dieses Monster uns gleich überholt hat und suchen nach Zuflucht. Aber weglaufen? Geht schlicht nicht. Ein enormes Album.
Maxine Funke: «Seance» (A Colourful Storm)
«It's a jelly, it's a recipe», sind die ersten Worte, die Maxine Funke auf «Seance» singt. Und so seltsam wie dieser Liedanfang ist, so unmerklich drehen ihre Songs weiter – ganz ruhig und wärmend, aber doch eigenartiger als fast alles, was in den letzten Jahren an naturbelassenen Liedern aufgenommen worden ist. Der Neuseeländerin reichen – neben ihrer Stimme, die zart Erinnerungen besingt und sich vernebelten Frühlingsnächten hingibt – eine akustische Gitarre, ein Örgeli mit Beatbox (im leicht pochenden «Moody Relish») und ein Aufnahmegerät, das einige Naturgeräusche gleich mitschneidet. Wer braucht da noch ein Lagerfeuer?
Hand Habits: «Fun House» (Saddle Creek)
Wie trauern, wie sich erinnern, wie sich verändern, wie nach vorne schauen? Meg Duffy hat auf «Fun House» zeitweise die zeitweise superdesolaten Songs, die auf den Friedhof ziehen, aber dann eben auch: die hoffnungsvolle Sehnsucht im Duo mit Perfume Genius, und der mögliche Neuanfang ganz am Schluss, trotz allen Zweifeln.
Kush K: «Your Humming» (BlauBlau)
Hin zum Zentrum? Eher los an die Ränder und in die leuchtenden Ecken und all die verborgenen Alltagsnischen. Auch dazu rufen die Songs von Kush K auf, bzw.: Ein Summen reicht, so locker-zwingend, wie das eigentlich gar nicht geht. Mit dabei: der Zitronendrink. Nicht nur für Plüschophile, die die weichen Ziele ansteuern. Mehr? Hier.
Evelinn Trouble: «Longing Fever» (Mouthwatering)
Dann aber: die roten Adiletten anziehen, und durch Evelinn Troubles Popsongs rennen und in diesen hängenbleiben. Denn diese zünden so viele kleinere Feuerwerke – bis hin zu «richtigen» 4th-of-July-Raketen in «Roadkill». Aber manchmal, da ists auch einfacher. «I just wanna vibe»? Gern.
Parquet Courts: «Sympathy for Life» (Rough Trade)
Beschleunigen auf Downtown-Geschwindigkeit, mindestens: die Parquet Courts setzen dem Wutbürgermarathon ein schön hässiges und auch schön lässiges und sehr lebensbejahendes Album entgegen. Beste Band.
Makaya McCraven: «Deciphering the Message» (Blue Note)
Gleich weiter in den grossen Städten, denn Makaya McCraven hat sich durch das Blue-Note-Archiv gehört, und landet in seinem so selbstverständlichen Dialog mit der klassischen Vergangenheit immer wieder im New Yorker Birdland, bei Art Blakey, bei Hank Mobley, bei Lee Morgan und all den anderen Grössen. Mit «Deciphering the Message» schreibt sich McCraven und seine Band natürlich gleich ein in diese Fortschreibung der Geschichte. Das Album erinnert aber vor allem auch daran, dass es bei dieser Musik im Kern ums Soziale, ums Zusammenkommen geht. Die Sehnsucht nach den langen Drink-Abenden in den Bars: sie steigt bei jedem Hören, zu jeder Tageszeit.
Mano Le Tough: «At the Moment» (Pampa Records)
Wenn es draussen besonders stürmisch ist, ist «At the Moment» eines jener Gegenmittel, mit verstrahlten Sounds und Ideen – und den Tracks und Aye-Aye-Mi-Mi-Hits für endlose Sommer und Park-City-Fantasien. Oh, süsser Eskapismus.
Odd Beholder: «Sunny Bay» (Sinnbus)
Sorgenlos weiterreisen und reinfloaten in die sonnigen Buchten? So schön und eskapistisch diese Songs wirken, so einfach sind diese dann natürlich doch nicht. Weil Daniela Weinmann genau das spiegelt – und unser Verhältnis zur Natur neu verhandelt. Wer braucht da noch einen transatlantischen Flug?
Injury Reserve: «By the Time I Get to Phoenix» (Injury Reserve)
Kein Requiem, auch wenn der Tod von ihrem MC Jordan Groggs dieses Injury-Reserve-Album ständig präsent ist. Was alles rumfliegt in dieser unerhörten Rapspielart? Natürlich die Trauer, aber auch Brian Enos «warm jets» und andere bis zur Unkenntlichkeit verarbeitete Samples. Ein grosser, radikaler Spass. Es wird weitergehen.
Sávila: «Mayahuel» (Mississippi Records)
Von Arizona ist es nicht so weit bis nach Mexiko – zumindest für all jene, die über die richtigen Pässe verfügen. Die Band um Fabi Reyna, die die Gitarrenplattform She Shreds gegründet hat, reist jedenfalls bis nach Oaxaca, auf der Suche nach Vorfahren und Kräutern und neuen-alten Geschichten. Bis in den Club.
Ben LaMar Gay: «Open Arms to Open Us» (International Anthem)
Mit der Stimme von Ben LaMar Gay hat das Jahr begonnen, dank seiner Strophe in «Oh Sweet Fire», und es klingt auch seit längerem mit dem Trompeter, Sänger und Geschichtensammler aus, dank dieser so dichten Musik, die er für «Open Arms to Open Us» aufgenommen hat. Zeitreisen und -sprengungen auch hier, zu seinen Ahnen und ins Hier und Jetzt, bis zur Umarmung.
Helado Negro: «Far In» (4AD)
Roberto Carlos Lange ist allerspätestens seit «This Is How You Smile» einer der bestmöglichen Hausgeister. Das ändert sich auch mit «Far In» nicht, weil seine Songs alle nötige Wärme ausstrahlen. Morgen wieder aufwachen? Unbedingt und gerne. Thank you forever.
RP Boo: «Established!» (Planet Mu)
Nach allen Fragezeichen die Ausrufezeichen zum Schluss, für eine Musik, die all die Energie, die gegenwärtig so rar ist, in sich trägt: RP Boo schreibt mit «Established!» die Footwork-Geschichte fort, recht klassisch – im Gegensatz zu DJ Mannys «Signals in My Head» und vor allem zu Jana Rushs krassem «Painful Enlightenment» –, weil Boo auch an die Ursprünge erinnert. Warum «Established!» hier steht? Weil es hier raus geht an all die Partys, day and night. Bis dort.
Die ersten Halbjahresalben sind hier zu finden.
Die gesammelten Alben gibts im Buy Music Club – zumindest jene, die auf Bandcamp erhältlich sind – sowie der Verweis auf mein Bandcamp-Konto mit vielen weiteren Musiken, weil ein Streaming-Abo nicht viel zahlt. Diese Alben und natürlich auch jene von den Labels, die auf Bandcamp fehlen, gibts in den Plattenläden oder den vertrauten Dealern. Jedenfalls: Danke vielmals für all diese Musik.