Die 22 Halbjahresalben 2021

Bildschirmfoto 2021 04 17 Um 21 29 29 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Zurückblicken, muss das sein, oder ist das schon buchhalterisches Kleinkrämertum? Mag sein, aber rasch ein paar bleibende Musiken dieses Halbjahres wiederzubesuchen, ist hoffentlich okay. Zumal auch die untenstehenden Alben eher Suchbewegungen beschreiben und keine definitiven Lösungen formulieren, auch weil ich so viele oft besprochene Alben noch nie angehört habe.

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Obay Alsharani: «Sandbox» (Hive Mind Records)

Es geht um Fluchten, Zufluchten, ums Überleben und über Welten, die niemand kontrollieren kann, nicht einmal Diktatoren: Auf Obay Alsharanis «Sandbox» klingt all das an, der persönliche Horror, den er und seine Familie in Assads Syrien erlebt haben, die Geschichte seiner Flucht nach Schweden, wo alles fremd war, ausser «Minecraft». Seine Geschichte kann im «Guardian» nachgelesen werden, während die herumfunkende Ambient-Alienation-Musik nach der Suche nach Halt weiter nachhallt.

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Colleen: «The Tunnel and the Clearing» (Thrill Jockey)

Eine Trennung, ein Neuanfang in einer neuen Stadt mit neuen analogen Instrumenten im neuen Heimstudio: Cécile Schotts «The Tunnel and the Clearing» ist ein solches Passagenwerk, das Tunnel durchwandert, und neu ankommt. Und plötzlich diese Klarheit, auch ohne Kathedralenbesuch bei der heiligen Eulàlia in Barcelona.

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Jane Weaver: «Flock» (Fire Record)

Solar Power gaben mir diese kosmischen Pop-Songs von Jane Weaver. Und die sind nicht nur für den Platz an der Sonne geeignet, sondern auch dann, wenn das Herz recht tief gesunken ist. Heartlow? Nicht mehr mit dem Song, der auch das Album öffnet – und natürlich nicht nur das.

Cover Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

The Notwist: «Vertigo Days» (Alien Transistor)

Al norte oder doch al sur? The Notwist stellen ihren Kompass neu ein, öffnen sich, suchen nach neuen Verbindungen und Verknüpfungen, ohne gleich alles über den Haufen werfen zu müssen. Sie schaffen das mit neuen Gast-Stimmen (Ben LaMar Gay, Angel Bat Dawid, Juana Molina), mit einem genauen Albumaufbau – und all den Songs und Tracks, bis die Liebe wieder gefunden ist. Alles, was ein Album kann.

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Ja, Panik: «Die Gruppe» (Bureau B)

Der erste Song des Jahres bleibt einer der Songs des Jahres – und bildet auf dem neuen Album der Gruppe Ja, Panik den Abschluss, nachdem Andreas Spechtl und seine Kompliz:innen ihre Gegenwarten und Memory-Machine-Vergangenheiten beschrieben haben. Und wir treffen uns vielleicht noch in den Livestreams, lernen neue Umwege, aber das Leben: es träumt schon sehr vom Konzertraum. Bis am 29. Oktober im Palace, St. Gallen. Apocalypse or revolution?

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Sophia Kennedy: «Monsters» (City Slang)

Alles (bzw. sehr vieles), was grosse Popmusik kann: Es steckt in diesen Monster-Songs von Sophia Kennedy, die blitzen und crashen und Herzen bewegen und abstürzen und weitertanzen, ob nun die Launen und Situationen gut oder schlecht sind. So gut.

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Not Waving: «How to Leave Your Body» (Ecstatic)

Die Möglichkeiten der körperlichen Entgrenzung klingen am deutlichsten im Titel von Alessio Natalizias Album an, denn die neuen Songs fallen nicht wie seine Clubtracks mit der Tür ins Haus – aber sie kommen immer näher und näher und gehen immer tiefer und tiefer, vor allem jene, in denen die Stimmen von Marie Davidson und Jonnine Standish schauen, dass nicht alles zusammenbricht. Und zumindest mich nicht mehr loslassen.

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Mica Levi: «Blue Alibi»

Mica Levis «Ruff Dog» bleibt gefährlich – und ist natürlich auch arg versehrt und verletzlich; das kurz darauf erschienene «Blue Alibi» hat aber auch Stücke wie «Sticks and Stones» und vor allem «Blue Shit», die nie kaputtgehen. Play it fucking loud.

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Roy and the Devil's Motorcycle: «Im Reich der wilden Tiere (no milk no sugar)» (Voodoo Rhythm)

Und dann gleich weiter in einen sonischen Raum, wie ihn nur die Gitarren-Brüderbande bauen und füllen kann. Für all die imaginierten Roadtrips, die auch in den Sackgassen und Sonorawüsten enden können. Oder sorgenlos in Barcelona stranden.

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Os Barbapapas: «DooWooDooWoo» (Fun in the Church)

Outernational Music aus Brasilien gibt mit dieser ewig drehenden Platte voller reisenden und kreisenden Miniaturen, die immer wieder neu drehen und kreisen und kuriose Wege nehmen. Easy Listening? Ja, auch, bis zum Glück, aber spielt sich nie aus.

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Sons of Kemet: «Black to the Future» (Impulse!)

Alles zu privat oben, auch wenn das natürlich immer irgendwie nach aussen funkt? Nun, bei Shabaka Hutchings' Sons of Kemet gehts um alles, und vor allem auch: um meine Position des sehr privilegierten weissen Zuhörers. Kein Safe Space in dieser bahnbrechenden Musik also, und das ist auch gut so.

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Loraine James: «Reflection» (Hyperdub)

Der erste Track auf diesem Album heisst «Built to Last», und es ist genau das, was diese Reflektionen über die inneren und äusseren Gegenwarten ausmachen: Aus dem Moment formuliert Loraine James bei allen Selbstzweifeln neue Club- und Popvisionen, die weit strahlen.

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Dean Blunt: «Black Metal 2» (Rough Trade)

Was ist das für ein Album? Ich weiss es immer noch nicht genau. Warum es hier steht? Ich kehre immer wieder zu einzelnen Songs zurück – auch dank dem heavy Airplay auf NTS – und höre, wie hier einer die Dunkelheit und den Zerfall und die Grossstadteinsamkeit mit schwermelancholischen Popsongs zu bezwingen versucht. Für die Nachtwachen.

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Tomaga: «Intimate Immensity» (Hands in the Dark)

Die Live-Auftritte von Tom Relleen und Valentina Magaletti waren alles, was Konzerte immer sein sollten: Neugierig, forschend, stur auch, fordernd, überraschend, lustig und dann auch tanzend. Vor einem Jahr ist Tom Relleen an Krebs gestorben, und er hinterlässt neben all den Konzerterinnerungen dieses posthume Tomaga-Album, das von hier bis in die immense Ewigkeit führt.

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Time Is Away: «Ballads» (A Colourful Storm)

Die NTS-Sendungen von Time Is Away gleichen zuweilen Hörspielen, die mit Songs und aufgefundenen Worten vergangene und imaginierte Geisterräume heimsuchen. Dieses vergriffene Tape schafft ähnliches, mit ungehörten Balladen, die bis zum Deutschschweizer Mundartliedgut führen. Aber keine weiteren Spoiler, so, wie es die beiden auch nicht machen. Wer es hören will? Gönnt sich am besten ein Bandcamp-Abo des Labels A Colourful Storm, denn das ist eigentlich die beste Investition, die ich in diesem Jahr gemacht habe. So viel Musik.

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Lucinda Chua: «Antidotes 2» (4AD)

Weitere Balladen, die bis zum Stolpern und Fall führen: Die Cellistin Lucinda Chua singt sie. Und ich stolpere immer wieder mit.

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Cassandra Jenkins: «An Overview on Phenomenal Nature» (Ba Da Bing!)

Bist du immer so nervös, wenn du am Steuer sitzt? Ja, klar, weil dies ist ja ein «hard drive», auch wenn Cassandra Jenkins’ Songs leicht gleiten, zumindest beim ersten beiläufigen Hördurchgang. Phänomenal – und am Schluss gehts auf den Naturstreifzug.

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Squid: «Bright Green Field» (Warp)

Jetzt: Beschleunigen mit dieser Band, die bei allen Verzweigungen ihrer doch recht ausschweifenden Post-Punk-Pamphleten durch viele Hässigkeiten durchrast. Die supernervige Singing Voice? Ja, klar, und das ist auch gut so, auf diesem grünen Feld ist man ja auch nicht zum Spass.

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Fehler Kuti: «Professional People» (Alien Transistor)

Eine Deutschlandreise zu den Professional People, den Spargelstechenden, den Ausländern, den Diasporas. Und wer erhält eigentlich die Pässe? Julian Warners «Professional People» sollte auch hier gehört werden. Mehr Kontext – auch mit dem Band «After Europe: Beiträge zur dekolonialen Kritik»: Gibts im Byte.fm-Archiv in Klaus Walters Sendung «Was ist Musik».

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Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp: «We're OK. But We're Lost Anyway» (Bongo Joe)

Fatalistisch mag der Titel sein, die vereinende Musik der Genfer Big Band mit all den Schlag- und Blas- und Saiteninstrumenten und Stimmen ist es natürlich nicht. Geht da doch noch was? Bzw.: «We Can Can We», gerne mit Ausrufezeichen.

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Hassan Wargui: «Tiddukla» (Hive Mind Records)

Der zweite Hive-Mind-Release in dieser Liste – dieses Mal dank Hassan Warguis Banjomusik mit Ursprüngen im marokkanischen Gebirge und zartem Autotune-Einsatz. Für die Freundschaft.

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Masha Qrella: «Woanders» (Staatsakt)

Ein letztes Mal oder einmal mehr ins Blaue oder Blaudunkel schwanken mit Masha Qrella und ihren Liedern mit Texten von Thomas Brasch. Wohin? An einen Ort, der immer woanders liegt. Am Meer vielleicht? Jedenfalls: «Woanders» ist jenes Album, das so vieles anzuhalten vermag, nicht nur die Maschinen, die nach der Arbeit an den Menschen ins Träumen geraten.

Diese Halbjahresalben-Liste war Teil des Popletters, der jeden Sonntag erscheint. Hier gehts zum Abo.

Beitragsbild ganz oben: Cover von Ditterich von Euler-Donnerspergs «Weisheit aus des Kindes Mund tut uns stets die Wahrheit kund», das auf A Colourful Storm wieder erschienen ist. Eben: Ein Abo lohnt sich.

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