Der Le Guess Who?-Code
Was kann ein Festival? Bestenfalls an noch unbekannte Orte hinführen – wie es das Le Guess Who? in Utrecht geschafft hat.
«Embrace the Unknown» hiess das diesjährige Motto des Le Guess Who?, dem Festival in Utrecht mit dem so reichen wie übergrossen Programm. Und natürlich: Das Unbekannte, das war bis zum ersten Festivalbesuch im vergangenen Jahr auch der Austragungsort selber. Und auch wenn die Stadt dieses Mal schon recht familiär war, ging es wieder so: Ein Velo mieten, Utrecht durchqueren, sich immer wieder verirren, hier einkehren, dort weiterrasen, bis man sich in einem engen Strässchen befindet. Dieses hiess dann beispielsweise Loeff Berchmakerstraat, und vor dem Plattenladen Dig It! hielten gerade Angel Bat Dawid und ihre Musiker eine Sonntagsmesse ab und riefen die Anwesenden dazu auf, den Daumen in die Höhe zu strecken, als Zeichen für «mother universe».
Später spielten dann im Rahmen dieses International-Anthem-Schaufensters auch noch Makaya McCraven und der Bassist Junius Paul vor dem Laden auf, und als zufälliger Gast war das dann doch der Moment, an dem mir wieder einmal gewahr wurde, was Musik abseits des Showbusiness, abseits der Streamingzahlen, abseits der grossen Geste der stadiongrosseen Popshows, ist. Nämlich eine Einladung zum Zusammensein.
Das ist gewissermassen auch die Haltung, die Ian Brennan in seinem Buch «Silenced by Sound: The Music Meritocracy Myth» vertritt. Der Produzent und Autor rief in einem Vortrag dazu auf, dort hinzuhören, wo die Musikindustrie nicht ist. Warum, so sagte er, soll man denn Ariana Grande weiter beachten, wenn es weit aufregendere und bessere Musik gebe? Und warum nimmt Bob Dylan weiter Musik auf, wo doch nach «Blood on the Tracks» sowieso alles nicht mehr so gut gewesen sei? Warum wird Bruce Springsteen nicht in die Pfanne gehauen für sein letztes Album? Denn irgendwann werden KünstlerInnen zu blossen Entertainern, was ja ganz natürlich sei. Aber mit Musik habe das nicht mehr viel zu tun, so Brennan.
Was er meinte, das war nicht nur bei Makaya McCraven und Angel Bat Dawid zu hören, sondern auch in einer Kirche beim Auftritt des Chors Isokratisses. Die Sängerinnen sind allesamt Laien, und die Musik, so der Musikwissenschaftler und Plattensammler Christopher C. King in seiner Einführung, sei eigentliche Hausmusik. Vorfabriziert, auf Click gesungen? War hier nichts.
Aber von dort gings weiter, in die vorformatierteren Shows. Eine solche war Deerhoofs Aufführung ihres Albums «Friend Opportunity». Und so sehr ich diese Musik auch liebe, so sehr vermisste ich das Unberechenbare, das Freudige, das die Band seit jeher am Leben hält.
Wahrscheinlich hätte ich den Rat von Ian Brennan, das Seltene eher zu sehen als das bereits Bekannte, stärker beherzigen müssen. Doch es ist schwer, Lieblingsbands auszulassen. Zumal es zeitlich bequemer war (oh, all diese Überschneidungen) und weil ich wusste, dass ich noch einen Platz finden werde, da man am Le Guess Who? kapazitätsbedingt nicht einfach frei flottieren kann (und einige Säle recht weit entfernt sind vom Tivoli-Festivalzentrum). Deerhunter, Cate Le Bon, Lightning Bolt oder die Girl Band? Schon gut, aber das «unknown» klingt halt anders.
Es gibt ja auch Familiäres, das live herausfordert: So das Set von Tyondai Braxton – mit dem grossen Stück «Scout1». Oder Holly Herndons «Proto»-Show, die stark auf archaische Gesänge setzt. Oder die Sets von Kevin Martin, einerseits mit Zonal und Moor Mother, andererseits mit den Grime-MCs Flowdan und Manga St. Hilaire.
Und dann spielte ja auch Makaya McCraven noch regulär im grossen Konzertsaal auf. Er spielte das noch unbekannte Lied «In These Days», und die Überwältigung dieser so offenen wie einladenden Musik: sie war immens. Und stachelt an, wieder weiterzugehen. Dorthin, wo das Unformatierte lockt.