Tyondai Braxton: «HIVE1»

Tyondai-Braxton Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Tyondai Braxton besetzt einen musikalischen Aussenposten. Nun hat das ehemalige Mitglied der Battles seine atemraubende Komposition «HIVE1» als Album veröffentlicht.

Wahrscheinlich lebt es sich für ihn hier besser, entspannter und doch aufregender: hier, das ist ein Aussenposten, der fernab der erforschten Pfade der Popmusik, ja, der Musik überhaupt liegt. Hier zirpen digitale Grillen, manipulierte Snaredrums zwirbeln und der durchgehende Beat des Dancefloors taucht nur noch als Erinnerung auf an eine Zeit, in der er sich urplötzlich im Zentrum widerfand. Im Jahr 2007 war Tyondai Braxton in diesem Zentrum.
Schuld war eine Math-Rock-Hymne, die er gemeinsam mit seinen Komplizen der Band Battles erschaffen hat: «Atlas» hiess das Monster, das durch Braxtons ungreifbare Helium-Gesangslinie eine der unwahrscheinlichen Indie-Hits des Jahres wurde.

2010 folgte der Ausstieg von Tyondai Braxton aus der Band, denn ausgiebiges Touren mit einem neuen Album, das kam für ihn nicht mehr in Frage. «Es ist eine traurige, doch freundschaftliche Trennung», behauptete eine Mitteilung der Battles, eine Trennung, die in einer Neuerfindung der Band mündete – und die es Tyondai Braxton erlaubte, weiter zu forschen an einer Musik, die so noch nicht gehört wurde.

Der Bruch hat sich 2009 bereits abgezeichnet. Damals erschien auf Warp Braxtons Komposition «Central Market», die er für ein grosses Orchester geschrieben hat und die die Schärfe und cartoonhafte Verspieltheit, die auch «Atlas» ausgezeichnet hat, in den klassischen Konzertsaal verabschiedete. Braxtons elektrische Gitarre – sein damaliges Hauptinstrument, das er nie wie ein herkömmlicher Held aus der Rockgeschichte spielte – und seine Splatter-Gesänge sorgten für den Puls und für Momente, die auch für Battles-Fans reizvoll waren. «Central Market» war ein Werk eines Mannes, der eine müde Avantgarde-Szene mit neuen kompositorischen Impulsen auffrischte, ohne diese allzu sehr zu erschrecken.

Es ist eine Avantgarde-Szene, die noch immer von alten Grössen wie Steve Reich oder Philip Glass geprägt ist, wie auch von Tyondais Vater Anthony Braxton. Der Saxofonist und Komponist, der als Teil der Association for the Advancement of Creative Music (AACM) den Jazz neu erforschte und später auch theoretisierte, war eine Vaterfigur, die Tyondai überwinden musste. «Die Musik meines Vaters war so ehrfurchtgebietend und damals für mich auch komplett undurchdringbar. Zudem stammte sie aus einer Zeit, die nicht meiner entsprach», erinnert sich der heute 36-Jährige in einem Interview mit der New York Times. So hörte Tyondai Nirvana, Sonic Youth und Punk-Rock statt die Werke von Stockhausen oder Schönberg, denn er war «pissed off» wie so viele andere Kinder der Neunzigerjahre, die mit ihren Eltern nicht klarkamen.

Stärker als die Musik und die Seelenverwandtschaft zu Nirvana und Konsorten wirkte auf ihn die Erkenntnis, dass man Musik machen kann, die simpel gestrickt und doch kraftvoll ist. Und diese Musik überzeugte Tyondai Braxton auch, dass er an einen anderen Ort als sein Vater hingehen muss. Allein: «Je mehr ich mich aber mit Arrangements und dem Komponieren befasste, desto stärker bemerkte ich meine Verbindung zur orchestralen Musik. Und so musste ich das, was ich von meiner Generation gelernt habe, mitnehmen und mit meiner musikalischen Herkunft verbinden. Das war sehr schwer.»

2013 und 2014 entwickelte Braxton seine Komposition «HIVE1». Die Instrumente, mit denen er dieses Stück entwickelte, stammten nun nicht mehr aus dem klassischen Konzertsaal oder aus dem Rockclub. Vielmehr tüftelte Tyondai Braxton mit einem modularen Synthesizer, der musikalische Zufälle nie ganz ausschaltet und schrieb ein Stück, wenn man so will, für Perkussion und eben dieses vielfach verkabelte Ungetüm.

Nach Aufführungen im New Yorker Guggenheim-Museum, in dem «HIVE1» als audiovisuelles Kunstwerk zu erleben war, liegt nun die kompakte Albumform vor. Es sind atemraubende 42 Minuten Musik, die vielfach verwirren: die genau designten Synthie-Sounds gehen über in anarchische Noises, die an die New Yorker Band Black Dice erinnern; zuweilen ist man verloren zwischen all den Bleeps, digitalen Grillen und kickenden, herkömmlich eingespielten Perkussionsinstrumenten, ehe der Beat zusammengesetzt ist – und unwiderstehlich, wenn auch nur kurz, zum Tanz lädt.

«HIVE1» ist eine amorphe Soundmasse, die immer neue Gestalt annimmt, ein abstraktes Stück, das nie in den althergebrachten Elfenbeinturm der glücklicherweise überlebten E-Musik flüchtet. Natürlich ist «HIVE1» auch keine Popmusik, aber es ist zu wünschen, dass diese Komposition dank Tyondai Braxtons Vergangenheit auch in diese Gefilde ausstrahlt. Denn wahrscheinlich sind es genau solche Werke, die die Popmusik von der langweilig gewordenen Retromania-These befreien können. Werke, die Tyondai Braxton von einem Aussenposten in die Welt zurückschickt, den er nur erreichen konnte, in dem er sich von seiner populären Band getrennt hat.

tyondai braxton - hive1 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Tyondai Braxton: «HIVE1» (Nonesuch/Warner)

Dieser Artikel ist in der aktuellen Loop-Ausgabe zum Thema «Im Umbruch» erschienen. Zum Abo gehts hier lang.

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