Requiem auf die Welt

Bildschirmfoto-2016-07-04-um-15.56.33 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Anohni führte in Montreux ihr Album «Hopelessness» auf. Es war überwältigend.

15 Minuten. 15 Minuten (oder auch mehr) tanzte Naomi Campbell auf der Leinwand. Das Publikum war ihrem begehrenden Blick und ihrer Schönheit ausgeliefert, wie sie sich in einem bunkerhaften Raum unter flackerndem Licht bewegte, aber statt Bewunderung überwog dann doch das Unbehagen, weil man wusste ja auch: Sie tanzt für eine Drohne, die heranfliegen und sie zerschmettern wird. Der Drone-Sound, der bereits vor Beginn dieser Performance im Saal zu vernehmen war, intensivierte sich allmählich, einige Zuschauer rissen doofe Zoten («Allez Mademoiselle») oder gaben scheue Buh-Rufe von sich. Ansonsten half zur Zerstreuung ja immer noch der persönliche Second Screen.

Wenn man sich dem aber aussetzte, dann war das bereits da: kaum aushaltbar. Irgendwann nahmen Daniel Lopatin (aka Oneohtrix Point Never) und Ross Birchard (aka Hudson Mohawke) ihre Plätze an den Soundstationen an den Bühnenrändern ein, gekleidet in Henkerkutten – es war der Titeltrack «Hopelessness» zu hören, auf der Leinwand erschien eine blutige Fratze, und zum ersten Mal war auch die Stimme der noch immer abwesenden Anohni zu hören. Und selbst als sie dann die Bühne betrat, blieb sie verhüllt in der Kutte der Henkerin, und es war spätestens da klar: Dieses Montreux-Auftaktkonzert hat mit einem herkömmlichen Konzert nicht viel zu tun.

Vielmehr war es der Abend der zerhetzten, verweinten und weinenden Gesichter, die auf der Leinwand zu sehen waren. Zumeist Frauengesichter (oder zumindest weibliche Gesichter), zerfurcht vom Dasein, die die Zeilen der «Hopelessness»-Trauerlieder auf eine Welt und einer Gesellschaft, die aus den Fugen ist, mit ihren Lippen nachformten. Die Stimme war immer jene von Anohni – und weil man sie nicht sah (ausser dann, als ihr Gesicht auf der Leinwand erschienen ist), wurden die Personen auf dem Screen zu den Avataren der Sängerin, die ihre Klavierballaden, die sie einst auch in Montreux als Crowdpleaser mitsamt Orchester vorgeführt hat, nicht mehr singen mag.

«Hopelessness» (das Album) so aufgeführt, wirkt dann nicht mehr sarkastisch oder zynisch (weil so kann die Platte auch gehört werden), sondern nur noch zum Weinen traurig. Zuletzt dann «Drone Bomb Me» – und das Gesicht der nun zerweinten Naomi Campbell, bevor es überblendet wurde mit diesem Video der Aborigine Ngalangka Nola Taylor («courtesy of WEF», leider, wie auch ein Hauptsponsor des Festivals neben Nestlé der aserbaidschanische Euro-Sponsor ist), das nun, beim Nachschauen, natürlich wohlfeil und arg pathetisch klingt. Am Schluss dieser Stunde war das aber dann doch noch eine letzte Erinnerung daran, dass es der Mensch ziemlich vergeben hat. Weil anders als ich gemeint habe, ist «Hopelessness» nicht der Soundtrack dafür, nun endlich was zu ändern oder aufzuwachen, sondern jener, der im Wissen eingesungen wurde, dass es längst zu spät ist.

Jedenfalls: Diese so genau eingefangenen Gesichter der Trauer, der Angst – und auch der Liebe: ich werde sie lange nicht mehr vergessen.

Mehr Hopelessness gibts in diesem Gespräch zwischen Anohni und der Medienkünstlerin Lynette Wallworth.

Das Montreux Jazz Festival dauert bis am 16. Juli, unbedingt sehenswert ist beispielsweise der Auftritt von PJ Harvey, aber das wissen Sie ja bereits.

Foto: Lionel Flusin / Montreux Jazz Festival

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