Die ersten 11 Halbjahresplatten 2023

Bildschirmfoto 2023 07 21 Um 16 13 19 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

11 Lieblingsalben des aktuellen Jahrgangs (obwohl es natürlich noch soo viele mehr gäbe): Die Halbjahresschau, ausgekoppelt aus dem Popletter. Also los.

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Mücha: «Hello Caller» (Frequency Domain)

«A bit like cauliflower done seven ways»: So beschrieb Amanda Butterworth die Herangehensweise, die zu diesem reinrufenden Album führten – weil sie sich auf «a single piano loop, a single vocal loop» und ein paar andere Zutaten beschränkt hat. So entstanden Tracks, die Wellen und Stimmen und Stimmungen hin und her schicken und mit seltsamen Präsenzen telefonieren. Eine vibrierende – und zum Schluss auch – laute Schönheit.

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Marlene Ribeiro: «Toquei no Sol» (Rocket Records)

Weiterreisen, bis zum Berühren der Sonne: Marlene Ribeiro, die einst Teil von Gnod war und mit so vielen zusammengespielt hat, veröffentlichte im Frühjahr ihr erstes Album unter eigenem Namen. Es startet mit einer Aufnahme ihrer Grossmutter, die eine alte portugiesische Weise anstimmt, es geht weiter ans Meer, übers Meer, nach Irland, nach Wales, nach Madeira, nach Salford, weil an all diesen Orten Aufnahmen entstanden sind, die sie zu diesen hellwach-träumenden Songs zusammengebaut hat. «Toquei no Sol» ist ein Album für experimentelle Deep- und neugierige Pop-Listeners, eines, das forever bleiben wird. (Mehr zu Marlene Ribeiro und ihrem Album: Alex Rigotti hat mit ihr für den «Quietus» gesprochen.)

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bar italia: «Tracey Denim» (Matador)

Und dann bewegst du dich im Rümli wie verrückt zu deinem Lieblingslied, fast so, als wärst du wieder 21-Jährig. Für genau diese Momente ohne Morgen haben bar italia, diese gar nicht mehr mysteriöse Band aus Dean Blunts Umfeld, die dringenden Songs. No future in dieser Desillusion? Mag sein, aber für das ziellose Betäubtsein mit Friends im Jetzt ist «Tracey Denim» das perfekte Album. So give up your dreams and come this way.

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Prix Garanti: «Nüt isch guet u aues isch plastik» (Nullkultur)

«Luege Fiume, luege Seriä, luege mer aues a», singt Maxi Ehrenzeller gleich zu Beginn der EP in seiner sehr eigenen Singsprechstimme, die von einem seltsam zerschlagenen wie auch staunenden Charakter zeugt. Aber nein, es sind nicht nur Selbstbespiegelungen von einem Binge-Watcher, es geht, so singt er später, «um aues», ja, auch um Werwölfe. Dieses Alles: es wird musikalisch begleitet von Synths und Beats, die die Leere und die Weite des Weltalls beschreiben, weil der Erzähler transformiert sich in einen Ausserirdischen, der sich zwischen «Hell and Heaven» bewegt.

«Hell and Heaven» hört sich als (berndeutscher) Song sehr selbstverständlich an, fast so, als wäre Gegenwartsmundartpop immer möglich und cool gewesen. Es spiegeln sich auch die Krisen und drohenden Apokalypsen wider, etwa im rasenden «Fiasko»: Wir sind in diesem Song nun mit dem Erzähler auf einer Brücke über der A1 beim Grauholz, er beobachtet durchnässt die schweren Camions, die Katastrophen aus allen Richtungen, den Warentransport und den Feldschlösschen-40-Tönner auf dem Pannenstreifen. Wie der Sänger hierhergekommen ist? Was er hier überhaupt macht? Das wissen nur die Vögel, die über ihm kreisen, während der Beat hart schlägt, und die Synths sich ins Superbedrohliche auftürmen. Überhaupt: die Band – neben Maxi Ehrenzeller sind dies Noah Reusser, Candid Rütter, Kevin Zeller und Milena Keller – produziert ihre Musik auf den maximalistischen Punkt, und entfacht selbst auf den komprimierten Streamingdevices eine Wucht, die einen umhaut.

In «Forever Please» zerplatzen noch einmal die Teenage Dreams. Ist dies hier etwa ein Licht am Ende des Tunnels? Ah, nein, es sind nur die blitzenden Strobos. Es ist trotzdem: wie ein Traum.

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Yves Tumor: «Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds)» (Domino)

Die allergrösste Geste jetzt, denn Yves Tumor hat das maximalistische Album dieser Saisons veröffentlicht. Und klar, die Produktion ist verrückt gut, aber ohne Songs wie «Fear Evil Like Fire» oder «Ebony Eye»? Wäre dieses Weltentheater sehr schnell verpufft.

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Chunky: «Somebody's Child» (Eglo Records)

Kein neuer Boy, eigentlich (hier ist seine Geschichte), aber ich bin weit weg von Manchester, deshalb brauchte es sein Debüt (und ein Spin von Tom Boogizm, s.u.), bis ich je von Chunky gehört habe. «Somebody's Child» hat nicht nur das kopfverdrehende «Meh», sondern ist schlicht ein fantastisch gebautes Album voller Familien- und Freundschaftssnippets und Tracks zum Tanz-auf-dem-Tisch – oder zum Niederknien. «So many angles and levels to this», schreibt Mr Scruff auf Bandcamp. Was da noch folgt?

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David Koch: «Dormant» (Unvague)

Beautiful strangers bleiben diese Songs, die David Koch aus Synths und Stimmen und Gitarren herausgecarvt hat, auch nach vielmaligem Hören. Und was geht da so nah ins Ohr? Vielleicht ein «Ghost Track» oder ists doch schlicht ein radikal-minimaler Popsong? Ein Schläfer, dieses 22-minütige Tape, bald dazu mehr auf splatz.space.

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King Krule: «Space Heavy» (XL Recordings)

Es geht um den «space between us», und diesen vermisst King Krule immer noch desolat, manchmal auch cholerisch und randalierend, wie die mir bis unbekannte «Hamburgerphobia», aber natürlich geht dieses perfecto-miserable-Nachtgestrolche immer wieder zu Herzen, vor allem in der Single «Seaforth». Strange Anziehung zu diesem Menschen, immer noch.

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Maxine Funke: «River Said» (Disciples)

Zuerst neue von ihren naturbelassenen und für immer haunted Songs, danach beschreitet sie einen neuen ambientalen Weg zum Beach: Maxine Funke weitet so ihre Folk-Seancen aus, und war da auch der «Zauberberg» im Hintergrund? In ihrer NTS-Sendung legt sie diesen Weg bis ins «Fülle des Wohllauts»-Musikzimmers des Sanatoriums aus. «River Said» bleibt ein spukiges und grosses, fliessendes Ding.

Bildschirmfoto 2023 07 10 Um 15 55 44 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Rat Heart Ensemble: «Northern Luv Songs 4 Wen Ur Life's A Mess» (Shotta Tapes)

Natürlich eine Art Schirmherr, auch über dieses bisherige Musikjahr: Tom Boogizm. Da war «Nite Mode Vol. 2» mit Michael J. Blood, da waren die «Robbin' Lobsters from Mobsters»-Sendungen, in denen er immer wieder Chunky, Mücha und auch Marlene Ribeiro spielte, da war jene bizarre und grossartige Clubnight im Rahmen der Art Basel im Hirscheneck mit Gratisdrinks für alle und immer – und da war vor allem auch dieses neue Rat Heart-Album.

Wie bereits für das leicht konkretere «A Blues» aus dem Vorjahr ergänzt er sein Pseudonym mit dem Zusatz Ensemble, als wäre das hier eine Band. Dieser supertraurige Blues, diese tröstenden Lovesongs: sie sind drone- und soundscapeartig, erinnern nur selten an herkömmliche Songstrukturen, gehen nah und schütteln durch. Vielleicht auch, weil hier einer keine Authentizitättricks und Formatierungen bemüht, weil er sie wohl gar nicht kennt. Oder sie ihm einfach radikal egal sind.

Und so oft «Northern Luv Songs 4 Wen Ur Life’s a Mess» auch ein- und ausfaden mag: hier ist eine Musik fernab von Kalkulationen und Businessplänen, die zeigt, um was es wirklich geht. Call it: das Leben.

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Avalon Emerson: «& the charm» (Another Dove)

Bereits Ende Januar 2023 erschien ein Song, der dieses Popjahr insgeheim eingeläutet hat. «Sandrail Silhouette» heisst dieser federleichte Popsong, der so locker hingeworfen wirkt – und dank all den Finessen auch nach dem 119 Hördurchgang beglückt. Weil es ist in jedem Moment zu spüren: hier war keine Songfabrik oder eine KI am Werk, sondern Menschen, die Pop und Musik lieben, und auch Lust haben, den Popsong weiterzuschreiben.

Hinter «Sandrail Silhouette» steht Avalon Emerson, die die DJ-Konsolen der bedeutenden Clubs bis auf Weiteres gegen das Mikrofon der Konzertlokale eingetauscht hat. Avalon Emerson befasste sich deshalb in ihrem neuen Zuhause in Los Angeles mit Musiktheorie, mit Akkordprogressionen, mit dem Bauen von kleinen Beats und Songfragmenten. Und sie fand mit Nathan Jenkins einen Produzenten, der ihr zeigte: Es muss nicht gleich ein ganzer Song sein, sondern es ist auch okay, nichts fertiges mitzubringen.

Eine glückliche Fügung ist dieses Aufeinandertreffen, denn beide zeichnet eine Lust am Spielerischen aus, eine Lust auch an den Schärfen, an den kleinen und grossen Sabotagen. Gemeinsam entwickelten sie daraufhin die Songs, die nun auf dem Album «& the charm» zu hören sind. Es sind Songs, die bei aller Leichte nie leichtgewichtig sind. Denn so sonnig sie wirken, nur hell sind sie nicht. Die Scheiss-Situationen, in denen sich die Gesellschaften und der viel zu heisse Planet befindet: sie werden immer adressiert, etwa im so abgründigen wie strahlenden «Astrology Poisoning» und der Zeile «And the world is a fuck». Und dann beschleunigt vieles. Ganz kurz: mein glücklichstes Album 2023.

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More and more? Wären immer möglich. Deshalb gings natürlich auch: hin zu Yo La Tengo, zu Film 2, zu Protomartyr, zu Fever Ray, zu Not Waving, zu Cindy, zu Obliecht, zu Asher Gamedze, zu Yaeji, zu Rozi Plain, zu den Plouk-Tapes, zu JPEGMAFIA x Danny Brown, zu Jonnine, zu Odd Beholder & Long Tall Jefferson, zu The Necks, zu Decisive Pink, zu...

Merci für die Musik!

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Diese Halbjahrescompilation war Teil des Popletters «Listen Up!», der zuverlässig am Sonntag in Ihrer Mailbox landet. Hier gehts zum Abo.

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