Der endlose Moment

Bildschirmfoto 2020 03 11 Um 10 05 24 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Das habe ich vor einem knappen Jahr geschrieben. Dieser eigentlich nur momentan gedachte Blindtext für die damals abgesagte Bad Bonn Kilbi bleibt aber leider mit wenigen Abstrichen und mit anderen Zeitkoordinaten gültig.

Wie klingt eigentlich jener Moment, in dem alles möglich, alles offen erscheint? Jener Moment, in dem der Aufbruch längst beschlossen ist, und man Neues frohgemut und unbeschwert, auch naiv und superoptimistisch angehen will? Nun, man muss nicht allzu weit zurückgehen, denn die «Fanfare for Effective Freedom» der Band Horse Lords ist erst wenige Monate alt. Wie diese Fanfare einen einsaugt mit dem Warp-Sound-Anfang, wie sie recht heavy und recht mühsam lernt, sich zu bewegen. Zielgerichtet klingt das, das schon, aber es geht in diesem Stück nicht immer vorwärts, weil geradeaus auf ausgetretenen und möglichst direkten Fährten zu gehen, ist langweilig. Und bald schon wirbelt und spickt die «Fanfare for Effective Freedom» die Hörerschaft in alle Richtungen. Was dann geschieht? Wer weiss das schon.

Jetzt, im April 2020, tönt dieses begeisternde Stück Musik allerhöchstens bittersüss. Weil es an eine Zeit der Möglichkeiten erinnert, die viel weiter zurückzuliegen scheint als nur eineinhalb Monate. Sie erinnert daran, wie es war, rauszugehen, zu tanzen, zu lachen, zu trinken an den Kilbis dieser Welt. Und auch daran, wie es hätte werden können, am ersten Juni-Wochenende im Juni 2020, wenn die Horse Lords aus Baltimore wie bereits vor zwei Jahren an der Bad Bonn Kilbi gespielt hätten. Die Gruppe hätte gezeigt, dass es auch heute möglich ist, als fast klassisch besetzte Rockband utopische Musik für künftige Communitys zu spielen. Ganz ohne Hippie-One-World-Weltverbesserungs-Quatsch.

Was bleibt nun, jetzt, wo in absehbarer Zeit keine Konzerte möglich sein werden, jetzt, wo so viele Existenzen und geliebte Orte vernichtet und verschwinden werden, jetzt, wo niemand genau sagen kann, was übrig bleiben wird, wenn «das alles» vorüber ist?

Was derzeit möglich ist, ist ja das: Zeitweiliges Herumirren in den Geisterstädten, die so grau geworden sind ohne das Alltagsleben. Die Isolation in der Wohnung. Alles umorganisieren. Helfen in der Nachbarschaft, Geld spenden, wenn man kann. Die Hoffnung nicht verlieren.

Weiter über Musik schreiben, so, wie ich das als Superprivilegierter noch machen darf, gegen die Einschläferung und drohende Lethargie anschreiben und die Nischen ausleuchten? Eigentlich ja und unbedingt. Denn aufgeben ist keine Option.

Derzeit gibts aber mindestens eine Blockade, die ich überwinden muss. Noch nie fühlte sich das Musikhören so subjektiv und privat an, so egal, was ich dazu zu sagen habe, beinahe eitel auch. Natürlich: Ich könnte und kann die Eindrücke teilen, über Social Media, mit Playlists, auf der eigenen Website, dem eigenen Popletter oder an diesem Ort hier. Ich kann dann schreiben, wie einem die Musik geholfen hat. Und was ich alles unternehme, in der Hoffnung, dass nicht noch mehr verschwindet. Beispielsweise so:

  • Einschalten gegen drohende Resignation — etwa das Radio, und zwar immer am Samstagmorgen, um elf Uhr. Zakia Sewell begrüsst jede Woche ihre Hörerschaft auf «lovely» NTS aus London, spielt Spiritual Jazz, Folksongs, Bands wie die mir noch unbekannten Vula Viel. Plattformen wie Spotify, deren Oberfläche und parasitäre Grundpolitik mir regelmässig die Laune verderben, sind dann sehr weit weg.
  • Laut aufdrehen — beispielsweise Protomartyr, Fuck Buttons, Róisín Murphy, DJ Rashad, Richard Dawson. Denn Berieselungen, wenn bereits so vieles rieselt und sich noch weiter im Ungefähren verliert? Brauche ich nicht und machen mich hässig.
  • Musik kaufen — auf Plattformen wie Bandcamp oder den Plattenläden sowie anderen Kanälen, von denen die Künstler und Künstlerinnen direkt profitieren. Denn Musik hat Wert. Und Musikerinnen und Musiker gehören gerecht entlöhnt.
  • Spenden an Clubs und Konzertlokale, die ich gern besucht habe — damit es irgendwann dann weitergeht.
  • Weitersuchen nach dem noch nicht Bekannten — Nostalgie zählt nicht.
  • Was jedenfalls bei mir nicht klappt: Stream the pain und die Sorgen away mit Quarantäne-Konzerten, so gern ich das auch möchte. Weil es den Live-Austausch nicht ersetzt. Und schon gar nicht die Energie, die ein Abend im Konzertlokal freisetzen kann.

Doch: Sind diese Zeilen nicht mehr als bloss kritikloser und undringlicher Content? Und interessiert das überhaupt irgendjemanden?

Ja, klar: Jetzt müssten wir neue Formen und Formate diskutieren, gerade in der Musikwelt, beispielsweise Festivalkonzepte, die nachhaltig sind, Tantiemenmodelle, die gerechter und solidarischer sind als jene der Gegenwart. Es könnte neuer Respekt gegenüber dem Hören von Musik einkehren, ein bewussterer Konsum vielleicht, dank neuen, noch zu bauenden Plattformen, die die Musikerinnen und Musiker fair entlöhnen würden. Es wird ja auch diskutiert werden, so wie am polnischen Unsound-Festival, das diesen Herbst in offener Form stattfinden und den Fokus weg von den Performances und auf einen Ideenpool richten wird. Sicher ist: Es wird nicht fruchtlos bleiben.

Und dennoch: Diese Krise, sie ist keine Chance. So gleicht mein Befinden doch eher jenem von Lorenzo Senni, der von zuhause aus zusehen muss, wie alle seine Pläne in sich zusammenfallen. Er schreibt in einem Beitrag aus Milano: «I hate to romanticise this quarantine.»

Noch vor drei Jahren hat Senni die frenetische «Shape of Trance to Come» vorgeformt, es war und ist ähnlich euphorisch wie die Horse-Lords-Fanfare. Man ist kein Nostalgiker und keine Nostalgikerin, wenn man sich diesen Zustand, diesen Möglichkeitsraum, den diese Tracks öffnet, wieder herbeisehnt. Nicht nur ab Konserve und in Isolation, sondern live und direkt.

Dieser Text wurde ursprünglich publiziert auf der Bad-Bonn-Kilbi-Seite im Frühling 2020.

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