15 Halbjahresplatten
Vor den Ferien des Jahres, eine kurze Aufstellung mit einigen Alben, die mir bleiben werden. Ohne Reihenfolge und mit sehr vielen Lücken, natürlich. Vielleicht findet sich ja was.
Norberto Lobo: «Estrela» (Three:Four)
Eine jener Alben, die ich immer wieder auflege, ist «Estrela» des Gitarristen Norberto Lobo. Er ist – anders als auf den früheren Veröffentlichungen auf Three:Four – nicht alleine, sondern spielt hier mit dem Trompeter Yaw Tembe, dem Cellisten Ricardo Jacinto und Marco Franco am Schlagzeug einen melancholisch verwehten Jazz, der zum Innehalten zwingt. Und wenn Lobo dann noch zu seinem Gitarrenspiel leise mitsingt, dann geht das schon zu Herzen. Saudade? Ja, schon.
U.S. Girls: «In a Poem Unlimited» (4AD)
Es war im Februar das Album der Stunde, und «In a Poem Unlimited» ist noch immer noch sehr gültig. Zumal Singles wie «Mad As Hell» oder «Rosebud» noch immer glänzen.
Tocotronic: «Die Unendlichkeit» (Vertigo)
Komm, singe darüber, wie das damals war, als du zur Gitarre gegriffen hast im elterlichen Reihenhaus, wie du ausgezogen bist in die grosse Stadt, wie du Todesfälle und verlorene Liebschaften verarbeiten musstest, und wenn du dann angekommen bist in der Google-Gegenwart, radierst du alles wieder aus. Und schreite so in die Unendlichkeit, dort, wo Dirk von Lowtzow, Rick McPhail, Arne Zank und Jan Müller bereits angekommen sind mit dem Album ihres Lebens.
Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp: «Sauvage Formes» (Bongo Joe)
Tropischer Post-Punk? Geht in etwa so, wie das diese Grossformation aus Genf erfindet. Was für schöne Songformen da entstehen.
Parquet Courts: «Wide Awake!» (Rough Trade)
Jetzt tanzt diese New Yorker Band auch noch. Und zwar im Takt der Disco-Cowbells, die in den Achtzigern den Puls der Grossstadt vorgaben und nun im Titelstück ihrer neuen Platte «Wide Awake!» selbst die tiefsten Schläfer aufwecken. Einer Platte, der man gar nicht anhört, dass hier der Retro-Trickser Danger Mouse an den Studioreglern sass. Ansonsten bleiben krawallierende Postpunk-Gitarren das prägende Element dieser so lustigen wie cleveren Band. Das artet dann in eine Beinahe-Prügelei aus, wie Sänger Andrew Savage mit subversivem Humor in «Almost Had to Start a Fight» berichtet, aber es geht auch ruhiger, versöhnlicher. Denn eigentlich geht es auch hier nur um Herzlichkeit und Zärtlichkeit. «But like power turns to mold, like a junkie going cold / I need the fix of a little tenderness», singt Savage ganz am Schluss. Und genau diesen zärtlichen Schuss gibt diese fantastische Platte.
Tierra Whack: «Whack World»
Fast abseits des Celebrygetöses, das in diesem halben Jahr so viel Energie abgesogen hat, hat Tierra Whack ihre Welt vorgestellt. Sie braucht dafür gerade mal 15 Minuten, und 15 Songs, die wirklich noch ein wenig länger dauern dürften.
DJ Taye: «Still Trippin'» (Hyperdub)
Footwork nimmt auch vier Jahre nach dem Tod von DJ Rashad kein Ende, auch dank dem Teklife-Wunder DJ Taye. Weil «Still Trippin'» hat die verrückten Beats, die Nervensounds, die Raps und auch die Songs. Was für ein Album. Weiterhören? Geht dann bei RP Boo, bei Miss Red, bei Proc Fiskal oder Sami Baha. Dazu nach den Ferien mehr auf dem Arbeitgeberkanal, so die Zeit es will.
Peter Kernel: «The Size of the Night» (On the Camper)
Früher wollten sie immer laut sein, nun schätzen sie auch das Stille. Sagen Aris Bassetti und Barbara Lehn- hoff, die das Duo Peter Kernel bilden. So suchte das Paar aus dem Tessin für sein viertes Album nach einer neuen Dynamik und nach neuen Möglichkeiten, um ihren Gitarren- Bass-Schlagzeug-Sound zu erweitern. Es ist ihnen auf «The Size of the Night» gelungen. Das klingt dann nicht mehr nur harsch und widerspenstig. Sondern auf diesem aussergewöhnlich reichen Album finden sich auch Popsongs, die trau- mähnlich durch die Nacht navigieren. Man reist als Hörer quasi durch die Aufwallungen, die die dunklen Stunden mit sich bringen können. Mit «The Size of the Night» versuchen Peter Kernel auch, den Tod ihres Tontechnikers und Mentors zu verarbeiten. Und sie fanden, so erzählt es Bassetti, einen Weg, wie sie die Trauer und die in- neren Stürme exorzieren konnten. Entstanden ist eine Platte, die sich bei allen experimentellen Ausweitungen zeitweise auch leicht und hell anhört. Da ist beispielsweise der süsse Song «Terrible Luck», der entspannt und beinahe verspielt klingt. Oder der erlösende Schluss «The Fatigue of Passing the Night», an dem die durchlebten Stürme und alles Gewicht von Peter Kernel abzufallen scheinen. Ein paar Sachen mehr gibts noch hier zu lesen.
Lucy Railton: «Paradise 94» (Modern Love)
Zu dieser Platte der Cellistin Lucy Railton fühle ich mich hingezogen – auch wenn sie Angst verbreiten kann, zumal im Schlussstück «Fortified Up». «Paradise 94» steht aber auch für eine Gegenwart, in der die so called experimentelle Musik – zwischen Club und Industrial und Klassik und Soundinstallation und Pop – fantastische Möglichkeiten erforscht. Dieses Album zeigt, dass Mica Levis «Under the Skin» bloss der Anfang war. Wohin das alles führt?
Mary Lattimore: «Hundreds of Days» (Ghostly International)
Natürlich sind die Stücke, die Mary Lattimore mit ihrer Harfe erfindet, beruhigend. Doch sie führen auch auf «Hundreds of Days» nicht in einen Märchenwald, sondern eher in einen Wald voller persönlichen Erinnerungen. Und man hört, wie sich die Zeit zerdehnt, und man verlustig geht.
Yo La Tengo: «There's a Riot Going On» (Matador)
Das Album, das ich am meisten gehört habe und mich mit am stärksten berührt hat. So zärtlich, so offen, so versponnen, und doch immer präsent. Oder, wie Marcel Elsener im «Loop» über die Band geschrieben hat: Ihre Musik «geht beim Kochen, Essen, Abwaschen, geht beim Velo-, Zug-, Autofahren, geht zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jedem Zustand, geht in Einsamkeit und Festtrubel, geht sogar zum konzentrierten Arbeiten». Vielleicht ist «There's a Riot Going On» gar mein liebstes Album dieser einzigartigen Band – auch dank Stücken wie «Dream Dream Away». Hier noch mehr von mir.
DJ Koze: «Knock Knock» (Pampa Records)
In den Tagen der «Russenpeitsche» hörte ich erstmals «Knock Knock». Und wie es mich wärmte mit dieser liebevollen Herzlichkeit und der Portion Verschrobenheit, das bleibt unvergesslich. Jetzt ist längst Sommer, und es taugt auch für so viele verschiedene Lebenslagen. Lang lebe Kosi, und auch Róisín Murphy, die sowieso bislang alle Singles des Jahres beigesteuert hat.
Busdriver: «Electricity Is on Your Side»
Der Rap-Mainstream dominiert fast alles, frisst alle Aufmerksamkeit auf. Dabei sollte ich und wir und «man» doch wieder mehr Zeit abseits dieser Celebritykultur verbringen, beispielsweise mit Platten wie von Jean Grae & Quelle Chris oder diesem Album von Busdriver. «Electricity Is on Our Side» zeigt einen Rapper, der alles miteinander verbindet: den Jazz, den Free-floating Rap, und mit einer Vehemenz agiert, die zeigt, dass doch nicht alles verloren ist.
Laraaji: «Vision Songs Vol. 1» (Numero Group)
Meditationen sind nicht für mich gemacht, aber diese Casio-Keyboardsongs vom Lachseminarist und Esoteriker Laraaji eignen sich sehr wohl auch für mich. Vielleicht, weil der Space doch der Platz für mich wäre. Und diese Songs sind schon wundersam schön.
Tirzah: «Devotion» (Domino)
Eine Vorschau in den August, weil ich «Devotion» schon hören durfte: Tirzah singt, Micachu macht die Beats, und das tanzt dann nicht mehr wie ihr erster Song «I'm Not Dancing», sondern zieht in den liebesverlorenen Raum, in dem sich insgeheim eine neue Form von Soul zusammensetzt. Bis bald!
Jeden Sonntag: Der Popletter «Listen Up!» mit Platten, Konzerten und Lesestücken. Hier gehts zum Abo.
(Beitragsbild natürlich taken @sarahsartorius)
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