Die Jahresjukebox 2024

Bildschirmfoto 2024 07 20 Um 23 27 50 Benedikt Sartorius. Journalist und Popkulturist.

Hier versammelt, aber natürlich incomplete, ausgekoppelt aus dem Popletter: 24 Alben, die mir im 2024 sehr nahe waren.

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Nina Harker: «nina harker» (Aguirre/All Night Flight)

Hin zu den Seiten, her zu dieser Musik, die seltsam flaniert, mit Robert Walser, mit Weirdfolk-Miniaturen und Wave-Kellersynths und konkreten-unkonkreten Stimmen eines Duos aus Woherauchimmer. It's so unformatiert und so gut.

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Astrid Sonne: «Great Doubt» (Escho)

Ich peile «Great Doubt» an für die Hits – die lustig-existentialistische Single «Do You Wanna», die Mariah-Carey-Adaption «Give My All» – und bleibe immer hängen, auch, wegen den kurzen Instrumentals und jenen Songs, die bei den ersten Hördurchgängen noch im Schatten geblieben sind. Zum Schluss? Ein einzelgängerisches Austrippen in den offenen und auch recht verlorenen Raum.

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Still House Plants: « If I don’t make it, I love u» (bison)

«Das Hören, das Zuhören ist ein so wichtiger Bestandteil für uns und wie wir die Dinge angehen – selbst wenn vieles eingeübt und strukturiert ist und jede:r von uns weiss, auf was in unserer Musik zu hören ist. Denn wir lassen uns immer noch viel und grosszügigen Raum, auch in den kleinsten Teilen. It’s like a real kindness.» Das sagte mir Sängerin Jessica Hickie-Kallenbach vor bald zwei Jahren in diesem Gespräch hier. Diese kindness im Zusammenspiel zwischen Hickie-Kallenbach, dem fantastischen Gitarristen Finlay Clark und dem Schlagzeuger David Kennedy, dieses «deeply sensitive», das sie im Song «no sleep deep risk» adressieren, inmitten dem Schroffen, dem Wegspurtenden: es bleibt etwas, das zu Herzen geht. Play it loud.

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pigbaby: « i don't care if anyone listens to this shit once you do» (PLZ Make It Ruins)

Male tears für einmal, und ja, selbstbemitleidend auch. Warum dann hier? pigbabys Album ist auch sehr lustig, und gets me mit so verlorenen und doch warmen Tracks wie «Life moves fast, so take my hand» oder dem flötelnden Nachhauseweg-Nachtcycling-Lied «Baby foxes & me.» aus Hellhole London. Poor boy!

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Chanel Beads: «Your Day Will Come» (Jagjaguwar)

Strobe Lights an, solange diese Songs dauern. Denn sie können sehr schnell vorbei sein, wie das offenherzige «Idea June», das immer wieder im Loop läuft (und das in der Videoversion übersteuerter und lauter ist). Die Songs können auch ins Ambientale wegdriften, können einem die Ohren versengen oder können auch träumend durch die Nacht cruisen wie die grosse Single «Police Scanner». Der Tag für Chanel Beads, dem Bandprojekt von Shane Lavers, ist nach verschiedenen EPs nun mit diesem Debüt gekommen.

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Ziska Staubli: «sun exposure» (A Tree in a Field)

Der Sommer scheint abgesagt, aber wer die Sonne anknipsen will, hat immerhin diese EP von Ziska Staubli – mit Songs, die «ein bisschen weird, ein bisschen psychedelisch» klingen und kleine-grosse Utopien beschreiben. Diese Songs zählen locker zu den schönsten und freshesten dieses Jahres.

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Broadcast: «Spell Blanket - Collected Demos 2006-2009» (Warp)

«The Songs before the songs comes out»: in diese Demosammlung von Broadcast aus der Post-«Tender Buttons»-Zeit kann man an irgendeiner Stelle reinklicken – vielleicht ins superpsychedelische «Hip Bone to Hip Bone», vielleicht ins lichtsuchende «Follow the Light», vielleicht ins gemeinschaftliche «Join in Together» – und man wird immer wieder heimgesucht und umarmt von dieser wondrous Musik und von Trish Keenans Stimmme, bevor es wieder dunkel wird.

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Julia Holter: «Something in the Room She Moves» (Domino)

«Am I listening close, my love?» Hoffentlich ja, doch Julia Holters Beach-und-Haus-und-Morgen-und-Nacht-Songs ziehen auch bei flüchtigem Dasein an. Ein Album für viele Stunden – und eines, das sich immer weiter bewegt.

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Meril Wubslin: «Faire ça» (Bongo Joe Records)

Valérie Niederoest und Christian Garcia-Gauche zogen für dieses Album nach London ins Studio von Kwake Bass und haben Dub-Bass-Wüstenblues-Tracks aufgenommen, in denen alles «curieux» ist und so viele Räume offen sind. Je suis là, immer wieder.

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VA: «Club Moss» (Wisdom Teeth)

Nicht unbedingt für den Club, aber auch nicht nur für den «home-listening headspace» sind diese Tracks im 150 bis 170-BPM-Range geeignet, die das Label Wisdom Teeth auf dieser Geburtstags-Compilation vereint. Auch das: eine Musik voller Möglichkeiten für viele Gelegenheiten.

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Ja, Panik: «Don't Play with the Rich Kids» (Bureau B)

Nun aber rein in den roten Bereich, hin zur Gruppe Ja, Panik, die aufdreht, losspielt, losrennt, als wären sie und wir erst neu da. Aber hey, dies ist keine nostalgische Altersübung, wenn Andreas Spechtl sich an die rasenden Zeiten zurückerinnert wie im losrasenden «Mama Made This Boy» mit der Albumtitelzeile «Don’t Play with the Rich Kids». Sondern es geht einmal mehr um sehr vieles: um das eigene Bewusstsein und die Positionierung als proletarische Band, um das Ansingen gegen den Faschismus (im lagerfeuernden Gospel «Fascism Is Everywhere (Why Not You?)»), um die verblassten Träume und um aktualisierte «Changes», die David Bowie dem Pop und der Welt geschenkt hat. Es gibt noch Möglichkeiten, das machen Ja, Panik mit diesem Album klar, auch für die Rockmusik (denn so elektronisch verfremdet und doch physisch klang ein Gitarrenalbum schon lange nicht mehr), auch für das Gefüge als weitverzettelte Gruppe. Vielleicht liegen die Antworten und weitere Möglichkeiten in der südlichsten Stadt der Welt, in Ushuaia (die beste Google-Maps-Reise), nach der das Schlusslied benannt ist. «Und wenn ich nicht schlafen kann, singst du mich in den Schlaf an der Kante der Welt, die wie du sie kanntest zerfällt», ist eine der letzten Zeilen dieses Albums. Danach übernimmt: die Gitarre. Wohin sie im siebenminütigen Solo reist? Vielleicht in die Unendlichkeit.

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Emahoy Tsege Mariam Gebru: «Souvenirs» (Mississippi Records)

Als Klammer hier, eine weitere Archivaufnahme, dieses Mal zu diesen Homerecordings von Emahoy Tsege Mariam Gebru, die sie zwischen 1977 und 1985 aufgenommen hat, wohl meist im Exil in Jerusalem. Für einmal spielt die Äthiopierin nicht nur ihre einzigartigen Pianofiguren, sondern sie singt auch, gemäss dem Albumtext über den Gang des Lebens, über existentielle Fragen, und was liegt eigentlich über den Wolken? Digital abrufbar, doch ein analoges Medium kann die Wirkung dieser Piano-und-Stimm-Songs noch verstärken.

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Mashu Hayasaka: «Piano Etudes» (All Night Flight)

Wo wieder beginnen? Nun, nach Emahoy Tsege Mariam Gebru vielleicht bei dieser Klavierhausmusik von Mashu Hayasaka. Diese Musik, aufgenommen mit einem Taperecorder, scheint privat, tagebuchartig, ist auch komplett unkalkuliert – und vielleicht ist es auch das, was diese Sammlung an Versuchen so bewegend macht.

Diese Musik erreichte mich dank dem Label des Shops All Night Flight Records in Stockport, ein noch unbesuchter Ort, der mein Jahr dank den hauseigenen Tabi Tapes und den Kassetten von Time Is Away wesentlich geprägt hat.

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Moin: «You Never End» (AD 93)

Moin gehen ihren Post-Hard-Cut-Core-Weg weiter, nun mit neuer Wärme und auch Fragilität. Denn die Stimmen: kommen neu nicht mehr nur via Sampler, etwa dann, wenn Sophia Al-Maria in «Lift You» die Frage stellt: «Do you believe one can love unconditionally?» Antworten? Natürlich keine. In dieser Musik ist weiterhin kein Ende in Sicht, zum Glück.

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Seina: «Juni» (Präsens Editionen)

Codes und Field Recordings aus Wäldern und anderen Wind-Orten: das verbindet Seina auf diesem kurzen Tape zu einer Musik jenseits Computerkälte. Der Noise, die Stille: so präsent. Hier noch: das splatz-Gespräch.

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Taimashoe: «Put the Trash Out» (A Tree in a Field)

Aah-Aaahh! Gessica Zinni singt mit offen-konzentrierter Band weiter und durchwirbelt die Songs in verschiedensten Stimmen und Stimmungen. Die üblichen Pop-Schwerkräfte sind auf diesem Album natürlich ausgehebelt und führen hin zum Titelsong, den ich immer und immer wieder höre – mit der Schlusszeile «because I dream», ehe die Musik abrupt abbricht. Noch einmal: von vorne.

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Nilüfer Yanya: «My Method Actor» (Ninja Tune)

Keep on dancing – und dann gleich weiter zu «Like I Say (I runaway)», einem der lossprintenden Songs des Jahres auf einem grossen, doch immer noch Non-Industry-Popalbum, das verschiedene Sensibilitäten befragt und Nähen zulässt. Call it love.

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District Five: «Come Closer» (Stone Pixels)

Es geht um Nähe, um Freundschaften und Utopien und Selbstbefragungen – in diesen konkreten und offenen Songs, in denen diese Band ganz bei sich scheint und sich auch scheinbar locker freispielt von allen Zuschreibungen. Hold on – und immer weiterdrehen, so gut.

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Läuten der Seele: «Die Reise zur Monsalwäsche» (Hands in the Dark)

Es gab im ausgehenden Jahr nicht so viele erste Male – Sachen abzuschliessen oder schöne Sachen weiterzumachen bestimmte 2024. Aber immerhin: ich schaffte es zum allerersten Mal nach Belgien dank dem Meakusma Festival in Eupen – einem Städtchen, in der die Amtssprache Deutsch ist, und die kriegsversehrten Wälder so nah und die gewaltvolle Vergangenheit spürbar sind. Während dem Festival erschien auch dieses Album von Christian Schoppik (er spielte auch ein Konzert, das war aber im allerkleinsten Raum, leider), und wenn ich «Die Reise zur Monsalwäsche» – einem Album mit zwei langen Collagen – höre, werde ich auch immer an dieses Wochenende an diesem haunting Ort zurückdenken. Denn um das gehts hier auch: um das Auffinden von obskuren Klangquellen und verborgenen Stücken, um das Erzählen von Geschichten – fast ohne Worte, um die Hingabe zu etwas, das weit weg ist vom Optimierungs- und Effizienzwahn der Gegenwart. «Die Reise zur Monsalwäsche» ist eine Art Erleuchtungsgeschichte fürs close listening und trotz den Kirchenchören ohne heiligen Krempel, eine Musik für niedergeschlagene Tage und auch für den Aufbruch bis ans Licht.

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Able Noise: «High Tide» (World of Echo)

Reinstolpern nun in dieses Album, mit Gitarren und Drums und Stimmen und anderen Instrumenten aus allen Richtungen und Warp-Levels. Able Noise sind und machen kurios, sind auf «High Tide» ernsthaft und lustig und bewegend und losspringend. Catch them (es wird misslingen, zum Glück...)

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Good Sad Happy Bad: «All Kinds of Days» (Textile Records)

Where do you go? Sehr gerne zu diesem Album hin, mit offenherzigen und ausgelassenen und introvertierten und lauten und leisen Songs für all kinds of days, scheinbar aus den Ärmeln geschüttelt von Raisa Khan, Mica Levi, Marc Pell und CJ Calderwood, denn ja: das sind auch Oden an die DIY-Kultur, die immer noch ein sehr gutes guiding light ist.

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Seefeel: «Everything Squared» (Warp)

Eine Band, für die ich einst zu jung war und die mich nun, da sie zurück ist, so sehr anzieht, ist Seefeel, die auf dieser EP mit Slow-Cosmic-Tracks Wege durch den Nebel sucht. Psychedelik für die Weird Walks, die auch hier an ein schimmerndes Licht führen? Vielleicht könnte das hinhauen.

Wer mehr neue Seefeel-Musik sucht: Anfangs Dezember ist – beinahe überhört – «Squared Roots» erschienen. Es scheint also immer weiterzugehen.

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Citron Citron: «Maréeternelle» (Bongo Joe)

Ein Reisealbum haben Citron Citron veröffentlicht, mit einer Musik fürs Unterwegssein in verschiedenen Analog-Pop-Geschwindigkeiten. Und sobald man mit diesem Bruder-Schwester Duo angekommen scheint in warmen Stereolabs, spickts einen wieder fort, nach draussen, in die Wave-Disco, in die Leere, in den Space.

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Mount Eerie: «Night Palace» (PW Elverum & Sun)

Wo beginnen mit diesem langen Album von Mount Eerie, dem Alias von Phil Elverum, das mich seit Jahren anlockt, hin in eine Dunkelheit, hin in eine brutale Natur und aber auch: hin zu einer fragilen Schönheit, die inmitten der Stürme umso wertvoller ist? Wahrscheinlich bei «Broom of Wind», jenem hell klingenden Song, der nach eineinhalb Minuten schon wieder abbricht – und beim folgenden «I Walk» mit dem so zärtlichen Beginn. Danach: bleibt man in Anacortes, im «Wind & Fog», bei den Fischgesprächen, die im ausufernden Booklet erklärt sind oder lernt über diesen Ort am nordwestlichsten Ende der USA – dieser gewaltvollen Idee von einem Land, die Elverum hinter sich lassen möchte. «Night Palace» ist kein Selbstzweckalbum eines geliebten Indie-Eremiten, sondern eines, das auch seine Blicke neu schärft: «with clear eyes, living in reality with integrity» – darum gehts.

Diese Jahresjukebox war Teil des Popletters «Listen Up!», der jeden Sonntag erscheint. Hier gehts zum Abo.

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