20 Jahresplatten 2019
Der Plattenschrank und die Online-Datensammlungen sind aufgeräumt. Deshalb hier: Die Musik, die mir 2019 besonders wichtig war – und aber auch jene, die ich mitnehmen werde.
VA: «Fragments du Monde Flottant» (Bongo Joe Records)
Kein anderes Album habe ich 2019 öfters angehört als diese von Devendra Banhart zusammengestellte Compilation. Vielleicht, weil mir diese Demos aus den Archiven von Arthur Russell, Helado Negro, Vashti Bunyan, Nils Frahm oder Jana Hunter eine Häuslichkeit gaben, die ich in diesem Arbeitsjahr doch vermisste. Vielleicht auch, weil mich diese Songskizzen daran erinnerten, was Musik losgelöst von der streamingzahlbesessenen Gegenwart alles ausdrücken kann. All das ist unvermessbar – zumal dieses Hausmusik-Album analog für einmal wirklich am besten klingt.
Kali Malone: «The Sacrificial Code» (Ideal Recordings)
Auch ein Gegengift: Die Orgeldrones von Kali Malone, die alles anhalten. Aber «chill vibes» gibts in diesen langen Stücken dann natürlich doch nirgends zu finden.
Burial: «Tunes 2011 to 2019» (Hyperdub)
Der Titel klingt nach einer sehr losen Zusammenstellung der versplitterten Burial-Releases in diesem Jahrzehnt. Doch die Doppel-CD ist viel mehr, nämlich ein genau gebautes Album, das sich sehr einsam und verloren anhört – zumal dann, wenn im dritten Track zum ersten Mal die Stimme erklingt. Es ist auch ein Album, das später in den Club-Ruinen die Entfesselung sucht. Ein Vorhaben, das bei einem Produzenten wie ihm natürlich scheitern muss. Cry me a river.
Shanti Celeste: «Tangerine» (Peach Discs)
Die Sonne geht bei der Produzentin aus Bristol auf, wenn sie auf diesem Debüt zum All-Day-Long-Rave lädt. Unesoterische Ambient-Tracks gibts auch, kurz: alles ist hier sehr frisch.
Shari Vari: «Now» (Malka Tuti)
Vor einem Jahr stand hier Sophia Kennedys Debüt, nun ist die Wahlhamburgerin wieder vertreten, dank ihrem Duo Shari Vari, das sie gemeinsam mit Helena Ratka unterhält. Und wenn man nun die beiden Alben vergleichen möchte, so ist «Now» weit heavier, düsterer auch, aber nicht weniger erfüllend. Zudem: Vielleicht ist «Out of Order» der beste Eröffnungssongs des Jahres.
Danny Brown: «uknowwhatimsayin¿» (Warp)
«Best Life» wurde im Spätherbst zu einer Art Theme-Song der Saison, und das dazugehörige Album zum meistgehörten. Weil Danny Brown hier gemeinsam mit Q-Tip ein sehr klassisch anmutendes Rap-Album aufgenommen hat – das sehr heutig klingt.
Aldous Harding: «Designer» (4AD)
Was macht Aldous Harding nur in Dubai? Diese zunächst sehr familiär wirkenden Songs wurden immer seltsamer, und die Rätsel bleiben ungelöst. Sehr anziehend, und am Schluss sehr verloren. Ein Wunder.
Ernest Hood: «Neighborhoods» (Freedom to Spend)
«Memories of Times Past» heisst der Untertitel dieser Proto-Ambient-Musik, die Ernest Hood Mitte der Siebziger veröffentlicht hat. Entstanden ist eine Hommage an seine Nachbarschaft, an verdöste Sommertage und an unbeschwerte Kindertage. Vor allem ist «Neighborhoods» eine Einladung, genauer hinzuhören – und den Noise-Cancelling-Kopfhörer mal wieder abzulegen.
Equiknoxx: «Eternal Children» (Equiknoxx Music)
Von Jamaika via Brooklyn bis Manchester: Das Equiknoxx-Kollektiv hat nach den bahnbrechenden DDS-Riddim-Platten eine Art Popalbum aufgenommen. Color me happy!
Tyler, the Creator: «Igor» (Columbia)
«Ridin' 'round town, they gon' feel this one», heissts im Intro, und ja: Tyler, the Creator ist nach «Flower Boy» wiederum eine grosse Pop-Platte gelungen, die ich immer wieder gehört habe. Und vielleicht würde sie auch helfen, wenn alles crashen würde.
Panda Bear: «Buoys» (Domino)
Zunächst hörte ich auf diesem so unspektakulär anmutenden Album eines Lieblingsmusikers nicht viel, und es schien, dass meine Panda-Fanjahre endgültig zurückliegen. Aber zu dieser Ozean-Platte kehrte ich immer wieder zurück. Und ich hörte neue Bässe und neue Lieblingslieder wie «I Know, I Don't Know». Eine Boje im Alltag.
Deerhunter: «Why Hasn’t Everything Already Disappeared?» (4AD)
Nostalgie ist toxisch, weiss Bradford Cox – dennoch zeigten er und seine Band mir einmal mehr, warum das Album für mich immer das zentrale Format ist, weil es eines ist, in dessen Verlauf man sich auch verlaufen und verlieren kann. Und «What Happens to People?» bleibt wohl für immer ein Lieblingslied.
Holly Herndon: «Proto» (4AD)
Ja, natürlich ist das Konzeptmusik, eine, die nicht Ekstase hervorrufen möchte – da hat der Simon Reynolds in seinem Conceptronica-Aufsatz schon recht. Wobei: Wie Holly Herndon auf «Proto» künstliche Intelligenz, grenzenverschiebende Beats und archaische Gesänge zusammenbringt, das ist schlicht: überwältigend. Und man hofft, dass diese Produktion auch in den Hitfabriken Spuren hinterlassen wird.
Jaimie Branch: «Fly or Die II» (International Anthem)
Die Trompeterin Jaimie Branch veröffentlicht ihre Musik auf dem derzeit sicherlich prägendsten (Jazz-)Label International Anthem. Auf diesem Album mit dem Folge-Titel «Bird Dogs of Paradise» ist alles drauf: Wütende Slogans (in «Prayer for Amerikkka»), Tanz-Jams aus dem Latinx-Untergrund («Nuevo Roquero Estéreo») und fantastische Live-Improvisationen von ihrem Quartett.
Little Simz: «Grey Area» (Age 101)
Little Simz ist «a boss in a fucking dress» und hat mit «Grey Area» jenes vorwärtsdenkende britische Rap-Album aufgenommen, das man allenfalls von Stormzy erwartet hätte (und Slowthai hat sich mit seinem Kilbi-Auftritt sowieso aus dem Rennen genommen). Jedenfalls: So soulful hässig klang 2019 keine andere Musik.
Cate Le Bon: «Reward» (Mexican Summer)
Nach dem verdrehtem «Crab Day» und ihren Drinks-Platten mit Tim Presley hat sich Cate Le Bon abgekapselt und in der Lake-District-Einsamkeit der Tischlerei zugewendet. Dort hat sie auch die Songs dieses Albums geschrieben, die sich um die Liebe kreisen. Ist sie da, oder doch nicht? Vieles ist hier auf der Kippe, nicht aber die Bläserarrangements, die den grossen Eigensinn dieser Songwriterin betonen.
King Pepe: «Karma Ok» (Der gesunde Menschenversand)
Für das zerknitterte Dasein hatte dieser King aus der Nachbarschaft die besten Hymnen – ob «Mönsch si isch passé», «Au di fründlächä Lüt», «Morn fallt us» oder natürlich der Sommerhit «Lambrusco». Bow down!
Jessica Pratt: «Quiet Signs» (City Slang)
Passt auch zu «Fragments du Monde Flottant»: Die sehr stillen Lieder von Jessica Pratt, die dennoch sehr gut geeignet sind für «this time around». Und Kalifornien erscheint recht nah.
Richard Dawson: «2020» (Domino)
Hilft joggen gegen all die Unbill der Gegenwart? Für einen Erzähler in Richard Dawsons Songs ist «Jogging» jedenfalls eine Lösung – für andere wie den Amazon-Lagerarbeiter oder die Betreiber des überfluteten Pubs gibts weniger Hoffnung. Won't you please help me? Mit Sicherheit einer der Grössten.
Helado Negro: «This Is How You Smile» (RVNG Intl.)
Wie privat kann politische Musik klingen? Wenn man die Songs von Roberto Carlos Lange hört, die er als Helado Negro veröffentlicht, kann man sagen: sehr privat. Denn sie klingen so sanft, so anschmiegsam, beinahe traumhaft, dass man zunächst gar nichts mitschneidet von den Tumulten der Gegenwart, dem Überlebenskampf und der Suche eines Lateinamerikaners nach dem Platz in der US-Gesellschaft, die den Urheber dieser Musik umtreiben. Und so strahlen die Songs des 39-Jährigen, der als Sohn von ecuadorianischen Einwanderern in Südflorida aufgewachsen ist und heute in New York lebt, erst vor allem eine Stille aus, die beruhigender wirkt als jeder Wellness-Badeplausch – und verbindlicher ist als jede laute Parole. Seine Musik steht vielmehr für einen Wert, den man gegenwärtig zuweilen suchen muss. Nennen wir ihn: Solidarität.